Ein Sieg für Riester-Sparer
Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart hat ein Urteil gefällt, das die Versicherungsbranche erschüttert und Riester-Sparer aufhorchen lässt. Konkret ging es um die Praxis der Allianz Lebensversicherung, bei bestimmten zwischen Juni und November 2006 abgeschlossenen Riester-Verträgen einseitig den garantierten Rentenfaktor zu kürzen. Dieser Faktor bestimmt, wie viel lebenslange Rente Versicherte pro eingezahltem Kapital garantiert erhalten. Eine scheinbar kleine Zahl mit enormer Wirkung: Schon wenige Prozentpunkte Unterschied können im Alter mehrere Hundert Euro monatlich ausmachen.
Hintergrund: Was ist der Rentenfaktor?
Um die Tragweite der Entscheidung zu verstehen, ist ein Blick auf den sogenannten Rentenfaktor notwendig.
- Definition: Der Rentenfaktor legt fest, wie hoch die monatliche Rente pro 10.000 Euro angespartem Kapital ausfällt.
- Beispiel: Liegt der garantierte Rentenfaktor bei 30, erhält der Versicherte für 10.000 Euro Kapital eine Monatsrente von 30 Euro.
- Relevanz: Je niedriger der Faktor, desto kleiner fällt die lebenslange Rente aus – selbst wenn über Jahre hinweg Beiträge und staatliche Zulagen geflossen sind.
Versicherer wie die Allianz hatten in ihren Verträgen Klauseln verwendet, die es ihnen ermöglichten, den Faktor während der Laufzeit nach unten anzupassen. Genau diese Praxis hat das OLG Stuttgart nun untersagt.
Das Urteil des OLG Stuttgart im Detail
Die Richter am Oberlandesgericht stellten unmissverständlich klar: Eine einseitige und dauerhafte Kürzung des Rentenfaktors ist mit dem Grundgedanken der Vertragsbindung und dem Gebot der Transparenz nicht vereinbar. Versicherungsnehmer hätten bei Vertragsabschluss darauf vertrauen dürfen, dass der garantierte Rentenfaktor nicht ohne gewichtigen Ausgleich verändert werden kann.
Ein zentrales Argument: In den zwischen 2006 angebotenen Riester-Policen seien die Klauseln zur Rentenfaktor-Anpassung zu unbestimmt und intransparent gewesen. Versicherte konnten nicht erkennen, unter welchen Bedingungen oder in welchem Umfang die Allianz die Leistungen kürzen darf. Damit seien diese Klauseln nach § 307 BGB (Unangemessene Benachteiligung) unwirksam.
Allianz in der Defensive
Die Allianz hatte argumentiert, die Anpassung des Rentenfaktors sei notwendig, um langfristige Kalkulationsrisiken, steigende Lebenserwartung und Niedrigzinsphasen auszugleichen. Das OLG Stuttgart hat diese Begründung zwar grundsätzlich nicht infrage gestellt, aber deutlich gemacht: Eine solche Anpassung kann nicht allein zulasten der Verbraucher erfolgen.
Stattdessen hätte die Allianz für Transparenz sorgen und klare Mechanismen zur “Rückanpassung” integrieren müssen. Das bedeutet: Wenn der Rentenfaktor in schlechten Zeiten abgesenkt werden darf, müsste er in besseren Zeiten auch wieder steigen. Da dies in den Riester-Verträgen nicht vorgesehen war, erklärte das Gericht die entsprechenden Klauseln für unwirksam.
Signalwirkung für Hunderttausende Sparer
Von dem Urteil sind weit mehr Menschen betroffen, als es die zunächst genannten zehntausend Verträge vermuten lassen. Verbraucherschützer gehen davon aus, dass ähnliche Klauseln in Hunderttausenden Riester-Verträgen der Allianz und anderer Versicherer enthalten sind. Sollte der BGH die Linie des OLG Stuttgart bestätigen, könnte dies eine Lawine von Nachforderungen auslösen.
Für Riester-Sparer bedeutet dies:
- Bestandsschutz: Bereits gekürzte Rentenfaktoren könnten wieder angehoben werden müssen.
- Nachzahlungen: Versicherte könnten Anspruch auf Ausgleichsleistungen haben.
- Vertrauensschutz: Neue rechtliche Sicherheit hinsichtlich der Unantastbarkeit garantierter Vertragsbestandteile.
Serie von Niederlagen vor Gericht
Das OLG-Urteil reiht sich ein in eine wachsende Liste von Niederlagen der Allianz vor deutschen Gerichten. Bereits am 30. April 2025 hat das Landgericht Berlin entschieden, dass einseitige Kürzungen des Rentenfaktors ohne Gegenleistung gegen das Transparenzgebot verstoßen. Die Allianz hatte vor wenigen Jahren zudem in ähnlich gelagerten Streitigkeiten mit Verbraucherschutzverbänden mehrfach verloren.
Diese Serie von Urteilen verdeutlicht: Die Gerichte neigen zunehmend dazu, die Rechte der Verbraucher bei Altersvorsorgeprodukten zu stärken. Intransparente Vertragsklauseln, die allein den Versicherern dienen, haben kaum noch Bestand.
Folgen für die gesamte Versicherungsbranche
Nicht nur die Allianz, sondern die gesamte Versicherungswirtschaft steht nun unter Druck. Viele Anbieter von Riester- oder anderen privaten Rentenprodukten haben Verträge mit ähnlichen Formulierungen. Sollten die BGH-Richter die Argumentation des OLG Stuttgart bestätigen, müsste die gesamte Branche ihre Geschäftsmodelle überdenken.
Dies könnte bedeuten:
- Überarbeitung von Klauseln in laufenden Verträgen.
- Verstärkte Transparenzpflichten bei neuen Policen.
- Finanzielle Rückstellungen für drohende Nachzahlungen.
Die Versicherer stehen damit vor einem Dilemma: Entweder sie verzichten langfristig auf Kürzungsmöglichkeiten und tragen selbst die Kapitalmarktrisiken, oder sie riskieren massive Imageschäden und Sammelklagen.
Was betroffene Riester-Sparer jetzt tun können
Wer zwischen Juni und November 2006 einen Allianz-Riester-Vertrag abgeschlossen hat, sollte jetzt aktiv werden. Experten raten:
- Vertragsunterlagen prüfen: Enthält die Police eine Klausel zur Kürzung des Rentenfaktors?
- Beratung einholen: Verbraucherzentrale oder Fachanwalt für Versicherungsrecht ansprechen.
- Fristen achten: Verjährungsfristen für Nachforderungen beachten.
- Schriftliche Einforderung: Ansprüche gegenüber der Versicherung rechtzeitig anmelden.
Selbst Versicherte, die nicht unmittelbar in den genannten Zeitraum fallen, dürften von der Entscheidung profitieren, da ähnliche Klauseln in vielen Riester-Verträgen gängig waren.
FAQ
Was ist der Rentenfaktor?
Der Rentenfaktor legt fest, wie hoch die monatliche Rente pro 10.000 Euro Kapital ist. Sinkt er, fällt die garantierte Rente geringer aus.
Warum betrifft das Urteil vor allem Verträge zwischen Juni und November 2006?
In diesem Zeitraum verwendete die Allianz Klauseln, die laut Gericht intransparent waren und eine unzulässige Benachteiligung darstellten.
Ist das Urteil rechtskräftig?
Nein. Die Allianz kann beim Bundesgerichtshof Revision einlegen. Der BGH wird damit die endgültige Entscheidung treffen.
Gilt das Urteil auch für andere Versicherer?
Noch nicht automatisch. Sollte der BGH allerdings die Rechtsprechung bestätigen, dürfte dies Signalwirkung auf die gesamte Branche haben.
Welche Möglichkeiten haben Betroffene jetzt?
Betroffene sollten ihre Verträge prüfen und rechtliche Beratung suchen, um mögliche Ansprüche zu sichern.
Fazit
Das Urteil des OLG Stuttgart ist ein Meilenstein im Kampf um faire Riester-Verträge. Es stärkt die Rechte der Verbraucher und setzt Versicherer unter Zugzwang, ihre Bedingungen transparenter und ausgewogener zu gestalten. Während die Allianz sich auf eine mögliche Niederlage vor dem BGH vorbereitet, wächst die Hoffnung vieler Riester-Sparer auf mehr Sicherheit und Gerechtigkeit im Alter. Eines ist klar: Die private Altersvorsorge steht vor einer juristischen Zäsur – und Verbraucher sollten jetzt genau hinschauen.