Bei Schwerbehinderung gelten andere Angemessenheitsrichtlinien in der Grundsicherung
Eine Schwerbehinderung kann in der Grundsicherung (sowohl Grundsicherung im Alter als auch Grundsicherung für Arbeitsuchende (Bürgergeld)) dazu führen, dass das Amt eine größere Wohnung als üblich als „angemessen“ anerkennen muss. Betroffene haben spezielle Rechte auf mehr Wohnfläche, sofern sie auf besondere Hilfsmittel angewiesen sind oder gesundheitliche Gründe vorliegen. Nachfolgend wird erläutert, wann und wie das Amt bei schwerbehinderten Menschen eine größere Wohnung genehmigen kann bzw. muss.
Wohnungsgröße und Schwerbehinderung
Für Bezieher der Grundsicherung gelten grundsätzlich Wohnflächenrichtwerte, die sich nach der Haushaltsgröße richten:
- 1 Person: 45–50 m²
- 2 Personen: 60 m²
- Jede weitere Person: +15 m²
Bei schwerbehinderten Menschen werden diese Grenzen erweitert, wenn die Behinderung zu einem nachweisbaren Mehrbedarf führt. Besonders anerkannt sind:
- Menschen im Rollstuhl
- Menschen mit dem Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung)
- Sehbehinderte oder blinde Menschen (Merkzeichen „Bl“)
- Menschen mit Pflegegrad 4 und höher
Mehrbedarf: Bis zu 15 m² zusätzlich
Die Behörden erkennen in vielen Fällen einen Mehrbedarf von bis zu 15 m² Wohnfläche pro schwerbehinderter Person an. Die zusätzliche Fläche kann vor allem dann bewilligt werden, wenn:
- der Rollstuhl oder andere Mobilitätshilfen Platz beansprucht
- pflegende Angehörige dauerhaft wohnen und einen separaten Schlafraum benötigen.
- der Wohnraum barrierefrei gestaltet und mit Hilfsmitteln ausgestattet sein muss.
Wichtig: Nachweis und Antragstellung!
Damit das Sozialamt eine größere Wohnung genehmigt, ist ein Nachweis über die Schwerbehinderung und den konkreten Mehrbedarf erforderlich:
- Vorlage des Schwerbehindertenausweises mit entsprechenden Merkzeichen oder Pflegegradnachweis
- Ärztliches Attest oder Bescheinigung über die Notwendigkeit barrierefreien oder erweiterten Wohnraums
- Genaue Dokumentation, warum die normale Wohnungsgröße nicht ausreicht (z. B. Platzbedarf für Rollstuhl, Hilfsmittel, Pflegedienst)
Empfohlen wird, vor Abschluss eines Mietvertrages mit dem Amt zu sprechen und eine schriftliche Zusicherung einzuholen. Im Zweifel hilft ein Widerspruch gegen eine abgelehnte Kostenübernahme.
Miete und Kostenübernahme
Die Wohnung darf nicht „unverhältnismäßig“ teuer sein; die Kommune legt Obergrenzen für die Miete fest – auch bei erweitertem Wohnraum für Schwerbehinderte. In Großstädten werden höhere Kosten als auf dem Land akzeptiert, aber die Bedingungen müssen immer im Einzel- oder Härtefall geprüft werden.
Besonderheiten bei Eigenheim
Besonders bei schwerbehinderten Menschen wird häufig das Eigenheim oder eine Eigentumswohnung toleriert, wenn der Wohnraumbedarf nachvollziehbar ist und die Kosten angemessen bleiben. Die Kommunen prüfen dies individuell und übernehmen in der Regel Kosten wie Grundsteuer, Versicherung und nötige Reparaturen
Gerichtsurteile zum Anspruch auf größere Wohnung bei Schwerbehinderung
Es gibt mehrere Gerichtsurteile, die den Anspruch auf eine größere oder teurere Wohnung für schwerbehinderte Menschen im Rahmen der Grundsicherung bestätigen – insbesondere bei nachgewiesenem Mehrbedarf oder Zugangshemmnissen zum Wohnungsmarkt.
Die Entscheidungen der Gerichte betonen, dass die abstrakten Grenzen regionaler Miet- und Wohnungsgrößenkonzepte nicht starr sind. Bei nachgewiesenen behinderungsbedingten Mehrbedarfen können sowohl höhere Mieten als auch größere Wohnflächen übernommen werden, sofern im Einzelfall eine eingeschränkte Teilhabe oder erhebliche Zugangshemmnisse bestehen. Nachfolgend haben wir beispielhaft einige Urteile herausgesucht:
Bundessozialgericht: Urteil B 8 SO 7/21 R
Das Bundessozialgericht (BSG) hat explizit entschieden, dass die Leistungsbehörden die „relevanten Besonderheiten des Einzelfalls“ berücksichtigen müssen. Liegen besondere Einschränkungen durch eine Schwerbehinderung vor, können auch größere oder teurere Wohnungen im Rahmen des § 35 Abs. 2 SGB XII als angemessen gelten. Dabei sind sowohl der konkrete Wohnungsbedarf als auch Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt für Menschen mit Behinderung zu beachten.
LSG Urteil zur Angemessenheit von barrierefreiem Wohnraum
Das Landessozialgericht Baden-Württemberg, Az. L 2 SO 2864/21, entschied, dass ein Grundsicherungsträger in einem Einzelfall eine 60 m² große Wohnung für einen schwerbehinderten, auf Pflege angewiesenen Mann als angemessen akzeptieren muss, obwohl laut Amt eigentlich nur 45 m² vorgesehen sind. Die besondere Wohnsituation (Rollstuhl, Pflegekraft, Gehstützen) rechtfertigt einen erhöhten Wohnbedarf.
SG Mannheim: Vollständige Kostenübernahme trotz Überschreitung der Mietobergrenze
Das Sozialgericht Mannheim entschied, dass bei stark erschwertem Zugang zum Wohnungsmarkt und fehlender Unterstützung durch das Amt auch die vollständige Kostenübernahme einer „zu teuren“ Wohnung erfolgen muss. Im konkreten Fall lebte eine gehbehinderte Person in einer 62 m² Wohnung mit höherer Miete, trotzdem wurde die volle Kostenübernahme angeordnet. Sozialgericht Mannheim, Gerichtsbescheid, Az: S 2O 184/18.
Beratung und Rechtsschutz
Stellt sich das Sozialamt quer, sollten Betroffene sich bei speziellen Beratungsstellen, Sozialverbänden oder spezialisierten Anwälten Unterstützung holen. Im Ablehnungsfall kann ein Widerspruch oder eine Klage beim Sozialgericht sinnvoll sein.
Zusammenfassung: Schwerbehinderung rechtfertigt oft größere Wohnung
Wer nachweislich aufgrund einer Schwerbehinderung auf mehr Wohnraum angewiesen ist, hat Anspruch auf eine größere Wohnung im Rahmen der Grundsicherung. Eine zusätzliche Wohnfläche von bis zu 15 m² wird meist akzeptiert, wenn die besondere Situation begründet und nachgewiesen wird. Die endgültige Entscheidung liegt beim Amt, sollte aber immer transparent und nachvollziehbar erfolgen. Gegen eine ablehnende Entscheidung ist Widerspruch und Klage möglich!