Die aktuelle Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg im Verfahren L 2 R 411/25 ist für viele Betroffene mit chronischen Erkrankungen und anerkannter Schwerbehinderung von besonderer Bedeutung. Das Urteil klärt, welche Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente tatsächlich erfüllt sein müssen und warum ein hoher Grad der Behinderung – wie ein GdB von 80 oder das Merkzeichen „G“ – allein noch keinen Rentenanspruch auf Rente begründet. Gerade für Menschen, die dauerhaft gesundheitlich eingeschränkt sind und die Hoffnung auf soziale Absicherung durch eine Rente hegen, ist die detaillierte Auseinandersetzung mit dem Gerichtsurteil eine wichtige Orientierungshilfe.
Sachverhalt: Worum ging es im Verfahren?
Im Urteil L 2 R 411/25 entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg über die Klage eines 1962 geborenen Mannes, der nach verschiedenen einfachen Tätigkeiten (u.a. Lagerarbeiter, Küchenhilfe) seit August 2022 arbeitslos war. Nach einer medizinischen Rehabilitation beantragte er eine Rente wegen Erwerbsminderung. Grundlage seines Antrags waren chronische Beschwerden – unter anderem Wirbelsäulenleiden, orthopädische und psychosomatische Probleme, sowie zuletzt ein anerkannter Grad der Behinderung (GdB) von 80 samt Merkzeichen „G“.
Die Deutsche Rentenversicherung hatte den Rentenantrag abgelehnt: Die vorliegenden Gutachten und medizinischen Berichte sahen kein Leistungsvermögen unter sechs Stunden pro Tag für leichte Tätigkeiten. Der Kläger widersprach, doch auch im Berufungsverfahren vor dem LSG gelang es ihm nicht, seine gesundheitlichen Einschränkungen für eine Rente nachzuweisen.
Entscheidungsgründe: Warum wurde die Rente abgelehnt?
1. Maßstab: Erwerbsminderungsrente setzt nachweisbare Leistungsminderung voraus
- Nach § 43 SGB VI besteht Anspruch auf Rente, wenn das Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts unter sechs Stunden pro Tag sinkt. Das Gericht verlangte für diese Tatsache den vollen Beweis – also eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit.
- Maßgebend ist, wie sich gesundheitliche Beschwerden funktionell auf das quantitative und qualitative Leistungsvermögen auswirken – nicht allein die Diagnose, die Anzahl der Krankheiten oder der GdB.
2. Gutachten, Untersuchungen und ärztliche Unterlagen
- Sämtliche eingeholten Sachverständigengutachten und Arztberichte ergaben: Der Kläger kann nach wie vor mindestens sechs Stunden täglich eine leichte körperliche Tätigkeit mit zumutbaren qualitativen Einschränkungen ausüben. Auch zwischen den Diagnosen bestand laut Gericht kein Widerspruch.
- Einzige Einschränkungen betrafen u.a. das Vermeiden von Zwangshaltungen, schwerem Heben sowie Überkopfarbeiten. Gänzlich ausgeschlossen wurde das Arbeiten jedoch nicht.
- Klinische Untersuchen ergaben zudem, dass der Kläger trotz chronischer Leiden mobil ist und Wege (z.B. zu Gutachten) sogar regelmäßig mit eigenem PKW zurückgelegt hatte.
3. Kein Rentenrelevanz durch GdB oder Merkzeichen G
- Weder ein hoher GdB noch das Merkzeichen G führen automatisch zu einer Erwerbsminderungsrente. Der GdB misst die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, während die Rentenprüfung auf das verbliebene Arbeitsleistungsvermögen abstellt.
- Die Wegefähigkeit war nach richterlicher Überzeugung nicht ausreichend eingeschränkt; die Nutzung eines PKW schließt eine rentenrelevante Einschränkung aus.
4. Keine Leistungsbeeinträchtigung durch Summierung
- Auch eine „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen“ oder eine spezifische, besonders schwere Leistungsbehinderung konnte das Gericht nicht feststellen. Die Voraussetzungen für eine „Verschlossenheit des Arbeitsmarkts“ lagen somit nicht vor.
5. Weitere Gutachten nicht erforderlich
- Das LSG sah keinen Anlass für weitere Gutachten: Die Sachlage war durch die vorhandenen medizinischen Unterlagen und die Gutachten ausreichend geklärt. Hinweise auf eine aktuelle Verschlechterung gab es nicht.
Rechtliche Einordnung des Urteils & Praxistipps
- Wer eine Erwerbsminderungsrente beantragt, muss funktionale Einschränkungen nachvollziehbar nachweisen. Es ist ein Vollbeweis erforderlich. Die Benennung eines hohen GdB, psychischer oder orthopädischer Diagnosen allein reicht nicht – entscheidend ist das tatsächliche verbliebene Leistungsvermögen bezogen auf den Arbeitsmarkt.
- Die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit erfolgt vorrangig durch gerichtliche Sachverständige. Berichte behandelnder Ärzte können abweichen, sind aber meist nicht entscheidend, sofern die gerichtliche Begutachtung schlüssig ist.
- Die Nutzung eines Autos zur Bewältigung des Arbeitswegs spricht gegen eine erhebliche rentenrelevante Wegebehinderung.
- Versicherte sollten darauf achten, im Verfahren umfassend und konstruktiv mitzuwirken – fehlende oder unzureichende Mitwirkung kann zu einer Ablehnung führen.
FAQ zum Urteil L 2 R 411/25: GdB allein reicht nicht für Rentenanspruch
Reicht ein GdB von 80 oder ein Schwerbehindertenausweis für die Erwerbsminderungsrente?
Nein, maßgeblich ist das festgestellte Leistungsvermögen bezogen auf den Arbeitsmarkt, nicht der Grad der Behinderung.
Was bedeutet „Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten“?
Tätigkeiten mit geringen körperlichen Anforderungen, kein schweres Tragen, Heben, keine Zwangshaltungen und kein Arbeiten über Kopf.
Was kann ich tun, wenn mein Rentenantrag abgelehnt wurde?
Einlegen von Widerspruch und ggf. Klage. Es sollten aktuelle, aussagekräftige medizinische Gutachten und Berichte vorgelegt werden.
Wann kann die Wegefähigkeit als rentenrelevant eingeschränkt angesehen werden?
Erst wenn auch unter Nutzung von Hilfsmitteln oder einem PKW das Zurücklegen zumutbarer Wege nicht mehr möglich ist.
Zusammenfassung: Urteil – hoher GdB allein reicht nicht für Erwerbsminderungs-Rente
Das Urteil L 2 R 411/25 des LSG Baden-Württemberg stellt klar, dass ein hoher Grad der Behinderung (z.B. GdB 80) oder ein Schwerbehindertenausweis allein nicht ausreichen, um eine Erwerbsminderungsrente zu erhalten. Maßgeblich ist immer das tatsächliche, nachgewiesene Leistungsvermögen am allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Entscheidung belegt, dass medizinische Diagnosen und Teilhabeeinschränkungen nicht mit rentenrelevanter Erwerbsminderung gleichzusetzen sind. Wer eine Erwerbsminderungsrente beantragt, muss die funktionalen Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt konkret und nachvollziehbar belegen (Vollbeweis). Das Gericht folgte den Gutachten, die beim Kläger keine wesentlichen Einschränkungen sahen: Auch mit gesundheitlichen Problemen konnte er leichte Tätigkeiten für mindestens sechs Stunden täglich ausführen. Die Nutzung eines PKW für Wege führte ebenfalls zu einer Ablehnung. Das Urteil gibt Orientierung für Versicherte, wie sie ihre Erfolgsaussichten realistisch einschätzen und was bei der Antragstellung und Beweisführung im Rentenverfahren entscheidend ist.
Quelle
Urteil Landessozialgericht Baden-Württemberg zum Az L 2 R 411/25 auf sozialgerichtsbarkeit.de