Worum geht es in den anhängigen Verfahren beim BSG?
Im Zentrum steht die Frage, ob ein Jobcenter nach § 43 SGB II unmittelbar im gleichen Verwaltungsakt sowohl die Rückforderung von Leistungen festsetzen als auch gleichzeitig deren Aufrechnung erklären darf.
Bisherige Praxis der Jobcenter:
- In vielen Fällen wurden Erstattungsforderung und Aufrechnung im selben Bescheid vorgenommen.
- Damit beginnt sofort eine monatliche Kürzung des Bürgergeldes oder anderer SGB-II-Leistungen.
Kritikpunkt der Kläger:
- Die Betroffenen können so keine aufschiebende Wirkung einer Klage gegen den Erstattungsbescheid erreichen.
- Faktisch wird schon von anfänglicher Rechtsunsicherheit an das verfügbare Einkommen gekürzt.
Genau diese Praxis überprüft das Bundessozialgericht nun in drei Revisionsverfahren.
Die drei Revisionsverfahren vor dem Bundessozialgericht
Revision beim BSG erfahren aus Celle – direkte Aufrechnung im Fokus
- LSG Celle: Urteil vom 04.04.2025 – L 7 AS 649/22 (n. veröff.), Revision beim BSG: B 7 AS 13/25 R
- Streitpunkt: Zulässigkeit der Aufrechnung ohne Bestandskraft des Erstattungsbescheids.
Verfahren aus Niedersachsen-Bremen
- LSG Niedersachsen-Bremen: Urteil vom 04.04.2025 – L 7 AS 216/24, Revision: B 4 AS 12/25 R
- Klärung: Welche Rechte Betroffene im Widerspruchsverfahren behalten.
Verfahren aus Thüringen – Schutzinteressen der Betroffenen
- Thüringer LSG: Urteil vom 27.03.2024 – L 9 AS 906/22 (n. veröff.), Revision: B 4 AS 18/24 R
- Fokus: Verhältnis von Schutzinteressen der Leistungsberechtigten und Verwaltungspraktikabilität.
Alle drei Fälle sind nun beim Bundessozialgericht anhängig, das eine einheitliche Klärung herbeiführen will.
Rechtliche Kernfrage: Bestandskraft als Voraussetzung?
Die entscheidende juristische Frage lautet: Darf die Aufrechnung sofort im Erstattungsbescheid erklärt werden – oder erst, wenn dieser bestandskräftig und nicht mehr anfechtbar ist?
- Pro Jobcenter: Verwaltungsvereinfachung, weniger Aufwand, schnellere Rückführung fehlerhaft gezahlter Leistungen.
- Pro Bürgergeld-Empfänger: Schutz vor unrechtmäßigen Kürzungen, Recht auf effektiven vorläufigen Rechtsschutz.
Der Ausgang der Verfahren ist daher für die Verwaltungspraxis und für die Rechte zehntausender Betroffener von höchster Bedeutung.
Bedeutung für Betroffene Bürgergeld-Empfänger
Sollte das BSG entscheiden, dass eine Aufrechnung erst nach Bestandskraft zulässig ist:
- Viele bisherige Bescheide könnten als rechtswidrig gelten.
- Bereits erfolgte Aufrechnungen wären möglicherweise rückabzuwickeln.
Bleibt das BSG hingegen bei der derzeitigen Verwaltungspraxis:
- Jobcenter dürften weiterhin sofort aufrechnen.
- Der Rechtsschutz der Betroffenen wäre eingeschränkt, da Klagen gegen Erstattungsbescheide nicht aufschiebend wirken.
Experteneinschätzung
Rechtswissenschaftler und Sozialverbände argumentieren überwiegend zugunsten der Leistungsbeziehenden. Sie verweisen auf:
- den Rechtsstaatsgrundsatz,
- den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG)
- sowie den sozialstaatlichen Schutzauftrag.
Das BSG könnte sich hier an Urteilen zur Vollziehbarkeit vergleichbarer Verwaltungsakte orientieren.
FAQ
Was bedeutet „bestandskräftig“ im Sozialrecht?
Ein Verwaltungsakt gilt als bestandskräftig, wenn gegen ihn kein Widerspruch mehr möglich ist und er nicht mehr mit Klage angefochten werden kann.
Warum ist die Unterscheidung Erstattungsbescheid und Aufrechnung so wichtig?
Weil mit der Aufrechnung direkt in das Existenzminimum eingegriffen wird. Ohne Bestandskraft würde Bürgergeld schon gekürzt, obwohl die Rechtmäßigkeit noch nicht geklärt ist.
Ab wann ist mit einer Entscheidung des BSG zu rechnen?
Die Verfahren sind 2025 anhängig. Mit einer Entscheidung ist gegen Ende des Jahres oder Anfang 2026 zu rechnen.
Kann man gegen gleichzeitige Aufrechnungsbescheide jetzt schon vorgehen?
Ja, durch Widerspruch und ggf. Eilantrag beim Sozialgericht, um die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen.
Fazit: Höchstrichterliche Klärung mit großer Tragweite
Die anstehenden Entscheidungen des Bundessozialgerichts sind von enormer Bedeutung. Sie betreffen nicht nur einzelne Fälle, sondern potenziell zigtausende Bescheide bundesweit. Sollte das Gericht zugunsten der Leistungsbeziehenden entscheiden, stünde die Rückabwicklung jahrelanger Verwaltungspraxis bevor. Für Betroffene kann das mehr Rechtssicherheit – und im Einzelfall auch mehr Leistungen – bedeuten.
Das Nachrichtenportal Bürger & Geld des Vereins Für soziales Leben e. V. wird die Verfahren weiter begleiten und zeitnah berichten, sobald ein Urteil vorliegt.