Rückwirkender Mehrbedarf im Sozialrecht?
Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) (Az. B 8 SO 25/16 R) gehört zu den wichtigsten Entscheidungen im Kontext der Sozialhilfe nach SGB XII, insbesondere beim Anspruch auf pauschalierten Mehrbedarf für Behinderte mit Merkzeichen „G“. Im Zentrum steht die Frage, ob ein Mehrbedarf auch für vergangene Zeiträume – also rückwirkend – beansprucht werden kann, wenn das Merkzeichen erst später aber rückwirkend anerkannt wurde.
Sachverhalt: Worum ging es im Rechtsstreit?
Der Kläger, Bezieher von Leistungen nach dem SGB XII, verlangte einen Mehrbedarf von 17 %, da er mit Merkzeichen „G“ als erheblich gehbehindert galt. Die Behinderung und das Merkzeichen wurden jedoch vom Versorgungsamt erst nachträglich – mit Wirkung auch für frühere Zeiträume – anerkannt. Der Kläger beantragte daher, diesen Mehrbedarf rückwirkend für Zeiträume zu erhalten, in denen der Bedarf tatsächlich bereits vorlag. Die zuständige Behörde lehnte dies ab.
Im Kern drehte sich der Fall um die Frage, ab welchem Zeitpunkt der Anspruch auf den Mehrbedarf entsteht: Ist der Zeitpunkt entscheidend, zu dem das Merkzeichen mit Rückwirkung zuerkannt wird, oder erst ab dem Moment, in dem dies tatsächlich durch Bescheid (nach außen) festgestellt wurde? Das Sozialgericht gab dem Kläger zunächst Recht, sodass es zur Berufung und sodann zur Revision zum BSG kam.
Rechtsgrundlagen: Pauschalierter Mehrbedarf nach § 30 SGB XII
Der pauschalierte Mehrbedarf für behinderte Menschen ist geregelt in § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII. Er kann Personen mit Schwerbehinderung und Merkzeichen „G“ zustehen. Voraussetzung ist das nachgewiesene Vorliegen des Merkzeichens zum betreffenden Zeitpunkt.
Entscheidungsgründe des BSG: Kein rückwirkender Anspruch ohne aktuellen Nachweis
Das BSG entschied im Sinne der Verwaltung und gegen den Kläger:
- Maßgeblich ist nicht die rückwirkende Feststellung im Verwaltungsverfahren (z.B. durch das Versorgungsamt), sondern derjenige Zeitpunkt, als das Merkzeichen tatsächlich durch Bescheid nachgewiesen wird, also die behördliche Feststellung nach außen getroffen wurde.
- Die Sozialhilfe nach SGB XII dient der Deckung des aktuellen, gegenwärtigen Bedarfs (Gegenwärtigkeitsprinzip). Sie soll nicht Lücken aus der Vergangenheit nachträglich ausgleichen, sondern stets die aktuelle Bedarfslage absichern. Ein rückwirkender Leistungsanspruch entsteht nur dann, wenn bereits zuvor ein rechtlicher Nachweis und Anknüpfungspunkt für die Gewährung bestand.
- In der Urteilsbegründung wird ausdrücklich betont, dass mit der erst späteren Zuerkennung des Merkzeichens „G“ – und damit erst ab dem Zeitpunkt des entsprechenden Feststellungsbescheids – ein Anspruch auf den pauschalen Mehrbedarf ausgelöst wird.
Auszug aus der Urteilsbegründung (sinngemäß):
Die Feststellung des Merkzeichens “G” durch das Versorgungsamt mit Rückwirkung bedeutet nicht, dass bereits für vergangene Zeiträume ohne entsprechenden Nachweis ein Mehrbedarf gewährt werden muss. Entscheidend bleibt der aktuelle, im Bewilligungszeitraum bestehende und nachgewiesene Bedarf.
Bedeutung für die Praxis: Keine rückwirkende Nachzahlung von Mehrbedarf
In der Folge dieses Urteils gilt:
Sofern ein relevanter Mehrbedarf (z.B. wegen Behinderung und Merkzeichen) erst im laufenden Bewilligungszeitraum festgestellt wird, entsteht ein Anspruch auf die pauschale Leistung auch nur ab diesem Zeitpunkt – unabhängig davon, ob die Behörde das Merkzeichen rückwirkend anerkennt.
Wichtig: Betroffene müssen darauf achten, dass sie Nachweise (Schwerbehindertenausweis, Merkzeichen etc.) so früh wie möglich beibringen. Erst ab Zugang eines entsprechenden Feststellungsbescheids kann die zusätzliche Leistung beansprucht werden. Hieran knüpft auch die Sozialverwaltung zwingend an.
Fazit: BSG bestätigt strenges Antrags- und Nachweisprinzip im Sozialhilferecht
Das BSG-Urteil verdeutlicht, dass im Sozialhilferecht das Prinzip der Gegenwärtigkeit gilt: Leistungen gibt es nur für nachweisliche aktuelle Hilfebedürftigkeit, nicht rückwirkend für zuvor unerkannte/rechtlich nicht festgestellte Bedarfe. Eine nachträgliche Feststellung von Merkmalen (wie das Merkzeichen „G“) allein genügt nicht, um für davorliegende Zeiträume den pauschalen Mehrbedarf einzufordern.