Im aktuellen Urteil B 3 KR 1/24 R vom 13. November 2025 hat das Bundessozialgericht (BSG) eine wichtige Weichenstellung für die Hilfsmittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung vorgenommen. Hintergrund des Falles war der Antrag eines behinderten Erwachsenen auf Bewilligung eines motorunterstützten Sesseldreirads („Easy Rider“). Die beklagte Krankenkasse hatte den Antrag mit Verweis auf fehlende wesentliche Auswirkungen im Nahbereich abgelehnt. Nach Erfolg des Klägers in der Berufungsinstanz zog die Krankenkasse vor das BSG – sie war somit die Revisionsführerin.
Ausgangslage und Prozessverlauf
Der Kläger leidet an erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen, nämlich an einer Tetraspastik mit Ataxie, einem GdB von 100 und den Merkzeichen G, aG, RF und H im Schwerbehindertenausweis. Er benötigt für seine Mobilität spezielle Hilfsmittel. Seine Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme für ein motorunterstützte Dreirad ab und verwies auf eigene Maßstäbe für die Hilfsmittelbewilligung: Nur, wenn ein Hilfsmittel erhebliche Auswirkungen im Nahbereich (der Wohnung und deren unmittelbare Umgebung) ermögliche, bestehe ein Anspruch. Das Landessozialgericht stellte sich jedoch auf die Seite des Klägers. Die Krankenkasse akzeptierte diese Entscheidung nicht und rief das Bundessozialgericht an – mit der Revision sollte eine striktere Linie durchgesetzt werden.
Die wichtigsten Aussagen des BSG-Urteils
- Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung betont, dass bei der Bewertung eines Hilfsmittelanspruchs immer die individuellen Bedarfe und Teilhabeziele des Versicherten maßgeblich sind.
- Pauschale Kriterien – wie z.B. eine vorab festgelegte Mindeststrecke oder grob umrissene Definitionen des „Nahbereichs“ – reichen für eine Ablehnung nicht aus.
- Die Sozialgerichte und Kassen müssen konkret prüfen, welche Auswirkungen das beantragte Hilfsmittel auf das tägliche Leben und die Selbstständigkeit des Betroffenen hat, und nicht schematisch anhand von Listen oder Richtwerten entscheiden.
- Im Ergebnis hob das BSG das Urteil nicht auf, sondern wies auf die Notwendigkeit einer erneuten, einzelfallbezogenen Prüfung unter Berücksichtigung aller Lebensumstände hin.
Die Hauptgründe, warum das BSG das Verfahren zur erneuten Prüfung an das Landessozialgericht zurückverwiesen hat, sind folgende:
Der konkrete Nahbereich wurde nicht ermittelt. Das bedeutet, es muss u.a. festgestellt weden, welche alltäglichen Wege liegen in Wohnungsnähe liegen, welche Entfernungen der schwerbehinderte Kläger zurücklegen muss, ob die Topografie besondere Herausforderungen stellt.
Die Zumutbarkeit wurde nicht ermittelt. Das bedeutet, es muss u.a. festgestellt werden ob der Kläger mit vorandenen Hilfsmitteln die Wege im Nahbereich zurücklegen kann, ob also etwa E-Rollstuhl gleich geeignet ist.
Die Wirtschaftlichkeit wurde nicht ermittelt. Das bedeutet, es muss festgestellt werden, ob es ander Möglichkeiten als das Easy-Rider-Dreirad gibt, die den gleichen Zweck erfüllen, aber kostengünstiger sind.
Krankenkasse oder Sozialhilfeträger zuständig?
Das Landessozialgericht soll auf Anweisung des Bundessozialgerichts auch prüfen, ob ein anderer Sozialleistungsträger zuständig sein könnte. Hintergrund: das EasyRider dient möglicherweise nicht der medizinischen Grundmobilität dient, sondern der Freizeit, dem Sport und der soziale Teilhabe. In diesen Fällen wäre der Träger der Eingliederungshilfe (Sozialamt der Gemeinde oder des Kreises bzw. der Landschaftsverband) und nicht die Krankenkasse Anspruchsgegner und Kostenträger.
Bedeutung für behinderte und chronisch kranke Versicherte
Das BSG verschärft mit diesem Urteil die Anforderungen an die Begründung von Ablehnungen durch die Krankenkassen.
- Versicherte haben einen klar gestärkten Anspruch auf Einzelfallprüfung bei Hilfsmittelanträgen.
- Die Entscheidung verpflichtet Krankenkassen, ihre Begründung sorgfältiger an individuellen Einschränkungen und der tatsächlichen Alltagsbewältigung der Antragstellenden auszurichten.
- Die (bisher häufig angewandte) Praxis pauschaler Ablehnungen unter Berufung auf „fehlende Auswirkung im Nahbereich“ ist rechtlich unzureichend.
Auswirkungen und praktische Folgen
Dieses Urteil hat für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen große Signalwirkung:
- Wer mit einem besonderen Mobilitätsbedarf Hilfsmittel beantragt (etwa ein Sesseldreirad, E-Bike, Spezialrollstuhl), sollte auf eine gezielte einzelfallbezogene Beurteilung drängen.
- Beratungseinrichtungen sowie Rechtsanwälte im Sozialrecht erhalten eine neue Argumentationsgrundlage, um gegen Ablehnungsbescheide gezielt anwaltlich vorzugehen.
- Es ist davon auszugehen, dass sich die Hilfsmittelversorgung für viele Menschen künftig verbessern wird, weil Widersprüche und Klagen mit Verweis auf das Urteil bessere Erfolgsaussichten haben.
Fazit zum Easy-Rider-Urteil des Bundessozialgerichts
Das Urteil des BSG (B 3 KR 1/24 R) ist ein bedeutender Fortschritt für die Stärkung der Rechte von Versicherten. Die individuelle Teilhabe und die tatsächlichen Anforderungen im Alltag stehen klar im Mittelpunkt – und Kassen wie auch Gerichte sind zur differenzierten Einzelfallprüfung verpflichtet, statt pauschale Ablehnungen zu stützen. Das Urteil ist ein wichtiges Signal an alle, die auf individuelle Hilfsmittel zur gesellschaftlichen Teilhabe angewiesen sind.


