Hintergrund: Reform der Grundsicherung
Die Bundesregierung plant 2026 eine grundlegende Neugestaltung des Bürgergeldes durch eine „neue Grundsicherung für Arbeitssuchende“. Neben einer Umbenennung des Systems liegen die größten Änderungen im Bereich der Sanktionen: Wer etwa wiederholt Termine beim Jobcenter versäumt oder zumutbare Arbeit ablehnt, soll deutlich härter und schneller sanktioniert werden.
Wer etwa Jobangebote verweigert oder wiederholt Termine versäumt, muss mit Sofortkürzungen um 30 % für mindestens drei Monate und – bei Arbeitsverweigerung – sogar mit dem zeitweisen kompletten Wegfall des Regelbedarfes rechnen. Die Karenzzeit beim Schonvermögen soll entfallen, Mietobergrenzen und strengere Kontrollen gegen Schwarzarbeit werden eingeführt. Die Regelsätze selbst sollen unverändert bleiben.
Kernthema: Sanktionen und Existenzminimum
Im Fokus steht die Frage, ob Sanktionen, die die Leistungen auf null reduzieren können, mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 2019 in einem Grundsatzurteil klargestellt: Sanktionen bis 30 Prozent des Regelbedarfes sind zulässig, stärkere Kürzungen oder ein kompletter Wegfall existenzsichernder Leistungen verstoßen dagegen gegen das im Grundgesetz verankerte Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum und die Menschenwürde.
Verfassungsrechtliche Bedenken im Detail
- Totalsanktionen für Arbeitsverweigerer: Die Reform sieht für “Totalverweigerer” die Möglichkeit vor, Leistungen komplett zu streichen. Verfassungsrechtler wie Anne Lenze und Friedhelm Hufen betonen, dass das Bundesverfassungsgericht solche Sanktionen ausdrücklich ausgeschlossen hat.
- Menschenwürde und Grundrechtsschutz: Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes garantieren die Menschenwürde und das Existenzminimum. Die geplanten Regelungen könnten diese Grundsätze verletzen, da sie das Leben von Leistungsbeziehern in sozialer Not gefährden.
- Politische Reaktionen: Sozialverbände, die Grünen und die Linkspartei kritisieren die Bundesregierung scharf. Das Vorhaben wird von vielen als “kalkulierter Verfassungsbruch” eingestuft.
- Bundesverfassungsgericht als letzte Instanz: Es wird erwartet, dass die Reform nach ihrer Verabschiedung erneut das Bundesverfassungsgericht beschäftigen und dort überprüft werden wird.
Historische Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu Sanktionen
Das Bundesverfassungsgericht hat 2019 klargestellt, dass Sanktionen von maximal 30 % des Regelbedarfes zulässig sein können, sofern sie verhältnismäßig sind und nicht die Menschenwürde gefährden. Eine völlige Streichung der existenzsichernden Leistungen ist hingegen verfassungswidrig – das Grundgesetz schützt das soziokulturelle Existenzminimum (Art. 1 GG). Höhere oder härtere Kürzungen wurden ausdrücklich ausgeschlossen, um die Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens zu garantieren.
Expertenkritik und Meinungen führender Verfassungsrechtler
Viele Verfassungsrechtler, etwa Prof. Dr. Anne Lenze und Prof. Friedhelm Hufen, äußern deutliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Pläne, wie in anderen Medien zu lesen ist. Sie sehen insbesondere die vorgesehenen Totalsanktionen bei Verweigerung jeglicher Mitarbeit mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts unvereinbar – die Maßnahmen könnten das Existenzminimum faktisch unterschreiten und damit die Menschenwürde verletzen. Auch in der sozialpolitischen Praxis gibt es scharfe Kritik: Die Pläne gelten als zu repressiv und als kalkulierter Verfassungsbruch.
Positionen der Sozialverbände und Oppositionspolitiker
Sozialverbände, wie der Paritätische Gesamtverband, die Volkssolidarität, AWO oder der Verein Für soziales Leben e.V. sowie Parteien wie Die Grünen und Die Linke lehnen die Reform ab. Die geplante Härte der Sanktionen sei „unmenschlich, falsch und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar“. Sie warnen zudem vor einer steigenden Armut und sozialen Ausgrenzung, falls Teile der Grundsicherung – auch zeitweise – wegfallen könnten.
Einschätzung der Erfolgschancen einer Verfassungsbeschwerde
Juristisch gilt es als wahrscheinlich, dass die Reform nach dem Inkrafttreten erneut vor dem Bundesverfassungsgericht landet. Die Erfahrungen mit Hartz IV zeigen, dass Sozialleistungsreformen regelmäßig auf dem juristischen Prüfstand stehen. Mehrere Gutachten gehen davon aus, dass die Totalsanktionen und das Unterschreiten des Existenzminimums vom Verfassungsgericht gekippt werden könnten.
Chronik: Wie ging das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit mit Sozialleistungskürzungen um?
Das Gericht entschied mehrfach: Das Existenzminimum ist unantastbar, jede Kürzung muss verhältnismäßig und zumutbar sein. Bereits bei Hartz IV wurden zu harte Sanktionen beanstandet und zurückgenommen. Die Gerichte prüften dabei u.a. auf objektive Zumutbarkeit der Auflagen und auf ausreichend Schutzmechanismen für besondere Härtefälle.
Ausblick: Mögliche Szenarien nach Inkrafttreten der Reform
Das Gesetz wird mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Sozialverbände dürften bereits schon jetzt Musterklagen vorbereiten. Sollte das Gericht wie bisher argumentieren, drohen Korrekturen – insbesondere für Leistungsentzug und Totalsanktionen. Die Debatte könnte aber auch den politischen Umgang mit Sozialstaatsprinzip und Menschenwürde mittelfristig grundlegend verändern.
Fazit: Verfassungswidrigkeit wahrscheinlich
Die neue Grundsicherung bringt weitreichende Einschnitte und verschärft die Sanktionspraxis der Jobcenter deutlich. Die geplante neue Grundsicherung bewegt sich damit in einem rechtlich äußerst kritischen Bereich und ist nach übereinstimmender Expertenmeinung sowie unter Berücksichtigung aktueller Urteile des Bundesverfassungsgerichts wahrscheinlich in Teilen verfassungswidrig, insbesondere was die Totalsanktionen und das Unterschreiten des Existenzminimums betrifft, also insbesondere die Möglichkeit des kompletten Ausschlusses vom Regelbedarf gilt als potentiell verfassungswidrig. Eine Überprüfung und Korrektur durch das Bundesverfassungsgericht ist zu erwarten.


