Worum ging es in dem Bürgergeld Fall vor Gericht?
Die Klägerin, Jahrgang 1983, bezog im Jahr 2006 Arbeitslosengeld II (heute Bürgergeld, morgen: neue Grundsicherung für Arbeitsuchende) vom Jobcenter. Im Dezember 2006 überwies ihr Onkel 1.500 Euro auf ihr Girokonto, weil sie in einer akuten finanziellen Notlage steckte (offene GEZ-Forderungen, Autoreparatur, Matratze, Versicherung).
- Das Jobcenter wertete die 1.500 Euro als sonstiges Einkommen nach § 11 SGB II und rechnete den Betrag auf den Zeitraum Dezember 2006 bis Februar 2007 an.
- Es hob die Bewilligung für diesen Zeitraum teilweise auf und forderte 1.410 Euro zurück.
- Die Klägerin wehrte sich mit dem Argument, es habe sich um ein Darlehen ihres Onkels gehandelt, das sie am 17.07.2007 vollständig zurückgezahlt habe.
Zur Untermauerung legte sie vor: ein Schreiben des Onkels („1.500 Euro als Darlehen, Rückzahlung zum 01.07.2007“), eine eidesstattliche Versicherung des Onkels sowie eine detaillierte Ausgabenaufstellung, wohin das Geld geflossen ist.
Entscheidung im ersten Schritt: Sozialgericht lehnt Klage ab
Das Sozialgericht Dortmund wies die Klage zunächst ab. Aus Sicht des SG hielt die Vereinbarung mit dem Onkel dem sogenannten „Fremdvergleich“ nicht stand: Die formalen Anforderungen, wie sie bei einem Darlehen unter Dritten üblich wären (z.B. exakte schriftliche Vereinbarung von Beginn an, klare Rückzahlungsmodalitäten), sah das Gericht als nicht hinreichend erfüllt.
Folge: Das Sozialgericht stufte die 1.500 Euro als einmalige Einnahme und damit als anrechenbares Einkommen ein. Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Berufung zum LSG NRW ein.
LSG NRW: Verwandtendarlehen ist kein Einkommen
Das Landessozialgericht hob das Urteil des Sozialgerichts auf und gab der Klägerin Recht. Die Kernbotschaft: Die Zahlung des Onkels war ein Darlehen und kein Einkommen – das Jobcenter durfte die Leistungen nicht kürzen.
Wesentliche Punkte der Entscheidung:
- Eine Aufhebung nach § 48 SGB X setzt voraus, dass nachträglich Einkommen erzielt wurde, das den Anspruch mindert.
- Die 1.500 Euro waren zwar ein Zufluss, aber kein anrechenbares Einkommen, weil von Anfang an eine Rückzahlungsverpflichtung bestand.
- Ein Darlehen verändert die Vermögenssituation nur vorübergehend und führt daher nicht zu einem dauerhaften „wertmäßigen Zuwachs“ – und damit nicht zu Einkommen im Sinne des § 11 SGB II.
Damit lagen die Voraussetzungen für Aufhebung und Rückforderung nicht vor; der Bescheid des Jobcenters war rechtswidrig.
Warum das Gericht das Darlehen anerkannt hat
Das LSG prüfte sehr genau, ob es sich wirklich um ein Darlehen und nicht um eine Schenkung handelte. Dabei stützte es sich auf mehrere Faktoren:
- Rückzahlungsvereinbarung von Anfang an
- Die Klägerin schilderte glaubhaft, dass sie ihren Onkel wegen ihrer Notlage um Hilfe bat und dieser sofort die Frage der Rückzahlung ansprach.
- Vereinbart wurde, dass nach Aufnahme einer Beschäftigung zurückgezahlt werden sollte; später wurde konkret der 01.07.2007 als Rückzahlungstermin festgelegt.
- Schriftliche Bestätigung und eidesstattliche Versicherung
- Der Onkel bestätigte später schriftlich, dass es sich um ein Darlehen mit Rückzahlung zum 01.07.2007 handelte.
- Zusätzlich legte er eine eidesstattliche Versicherung vor, in der er explizit erklärte, seiner Nichte 1.500 Euro „geliehen“ zu haben.
- Tatsächliche Rückzahlung
- Die Klägerin zahlte die 1.500 Euro im Juli 2007 per Überweisung vollständig zurück.
- Das Gericht wertete dies als starkes Indiz für die Ernsthaftigkeit der Darlehensabrede.
- Familiärer Kontext und Lebenswirklichkeit
- Das LSG betonte, dass in intakten Familien Nothilfen häufig „schnell und unbürokratisch“ gewährt werden.
- Es sei lebensfremd, Darlehen unter Verwandten an denselben strengen formalen Maßstäben zu messen wie Bankkredite oder Verträge unter Fremden.
- Kein Scheingeschäft
- Das Gericht sah keine Anhaltspunkte für ein Scheingeschäft nach § 117 BGB.
- Weder der Verzicht auf Zinsen noch die leicht verspätete Rückzahlung sprachen gegen ein echtes Darlehen.
Fazit: Im Zeitpunkt des Zuflusses stand für das Gericht fest, dass eine klare Rückzahlungsverpflichtung bestand. Daher lag ein Darlehen vor, das nicht als Einkommen anzurechnen ist.
Rechtlicher Hintergrund: Einkommen vs. Darlehen
Das LSG knüpft an die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts an:
- Einkommen ist alles, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält und zur endgültigen Verwendung behalten darf.
- Darlehen sind kein Einkommen, weil sie mit einer Rückzahlungsverpflichtung belastet sind und die Vermögenslage nur vorübergehend verbessern – es sei denn, die Rückzahlungspflicht entfällt später.
Entscheidend ist dabei der Zeitpunkt des Zuflusses: Die Rückzahlungsverpflichtung muss zu diesem Zeitpunkt eindeutig feststellbar sein. Erst wenn nach vollständiger Beweiswürdigung Zweifel bleiben, kommen strengere Maßstäbe wie der „Fremdvergleich“ zum Tragen – und auch dann nur, wenn konkrete Missbrauchsindizien vorliegen.
Das LSG kritisiert ausdrücklich, dass in anderen Fällen teilweise überzogene Maßstäbe angesetzt werden, allein mit Blick auf Missbrauchsabwehr. Im vorliegenden Fall sah es dafür keinen Anlass.
Bedeutung des Urteils für Bürgergeld-Empfänger
Das Urteil ist für Bürgergeld-Beziehende und ihre Angehörigen sehr wichtig, weil es klare Leitlinien gibt:
- Verwandtendarlehen können anrechnungsfrei sein, wenn sie ernsthaft vereinbart und später auch zurückgezahlt werden.
- Jobcenter dürfen nicht automatisch jede familiäre Zahlung als Einkommen einstufen, nur weil sie zur Deckung des Lebensunterhalts verwendet wurde.
- Familiäre Hilfe in Krisensituationen wird rechtlich anerkannt, ohne dass sie automatisch das Existenzminimum über das Bürgergeld „ersetzen“ muss.
Gleichzeitig zeigt der Fall, wie wichtig eine gute Dokumentation ist. Ohne schriftliche Bestätigung, eidesstattliche Versicherung und nachweisbare Rückzahlung hätte das Gericht den Darlehenscharakter deutlich schwerer anerkennen können.
Praxis-Tipps: So sollten Verwandtendarlehen gestaltet werden
Aus dem Urteil L 7 AS 62/08 lassen sich konkrete Handlungsempfehlungen ableiten:
- Möglichst früh schriftlich festhalten, dass es sich um ein Darlehen handelt (Betrag, Datum, Rückzahlungspflicht, Rückzahlungstermin oder -bedingung).
- Wenn der Rückzahlungstermin zunächst offen bleibt, die Bedingung klar benennen (z.B. „nach Arbeitsaufnahme“, „nach Eingang der Steuererstattung“) und später konkretisieren.
- Rückzahlung immer nachweisbar leisten (Überweisung statt Barzahlung; Kontoauszüge aufbewahren).
- Bei Nachfragen des Jobcenters kooperativ reagieren und Vertragskopie, Erklärungen und Nachweise vorlegen.
Wer diese Punkte beachtet, kann sich im Streitfall gut auf die Linie des LSG NRW berufen: Ein ernst gemeintes Verwandtendarlehen ist kein anrechenbares Einkommen und darf das Bürgergeld nicht kürzen.
Quelle
https://nrwe.justiz.nrw.de/sgs/lsg_nrw/j2008/L_7_AS_62_08urteil20081211.html


