Versteckte Chance beim Pflegegrad: Warum das Modul „Umgang mit der Krankheit“ so entscheidend sein kann
Wer sich zum ersten Mal mit dem Thema Pflegegrad auseinandersetzt, stößt schnell auf ein bürokratisches Labyrinth: Formulare, Gutachtertermine, medizinische Nachweise und Kategorien, die oft schwer zu durchschauen sind. Viele Betroffene oder ihre Angehörigen fühlen sich überfordert – und genau das führt häufig dazu, dass wichtige Details übersehen werden. Eines dieser Details: das Modul „Umgang mit der Krankheit“.
Gerade hier entscheidet sich oft, ob ein Antrag abgelehnt, herabgestuft oder erfolgreich anerkannt wird. Denn dieser Punkt hat in der Begutachtung besonderes Gewicht – und wird trotzdem häufig unterschätzt.
Wenn der Alltag zur Herausforderung wird
Das Konzept des Pflegegrades basiert auf sechs sogenannten Modulen, die die Gutachter des Medizinischen Dienstes bei jedem Antrag prüfen. Neben Mobilität oder der Fähigkeit zur Selbstversorgung fließt auch die „Gestaltung des Alltagslebens“ ein. Doch innerhalb dieser Rubriken steckt das Modul „Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen“ – und genau hier liegen viele ungenutzte Möglichkeiten.
Was zunächst technisch klingt, betrifft in Wahrheit den Kern des täglichen Lebens vieler Pflegebedürftiger. Gemeint sind Situationen, in denen Betroffene regelmäßig Hilfe benötigen, um mit den Folgen ihrer Krankheit oder Behinderung umzugehen: Tabletteneinnahmen, Verbandswechsel, Blutzuckermessung, Inhalationen, die Handhabung eines Rollators oder auch die Erinnerung an medizinisch notwendige Handlungen.
Diese Tätigkeiten sind keine Nebensache – sie zeigen, wie stark eine Krankheit in den Alltag eingreift. Doch weil sie vielen Betroffenen „normal“ erscheinen, werden sie im Antrag oft gar nicht erwähnt.
Kleine Versäumnisse mit großen Folgen
Die Folgen unterschätzter Pflegebedarfe können drastisch sein. Wer wichtige Punkte wie Medikamentenmanagement, Therapietreue oder die Bewältigung psychischer Belastungen nicht dokumentiert, riskiert eine Herabstufung – oder die komplette Ablehnung des Pflegegrades.
Besonders Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes, COPD, Herzinsuffizienz oder Depressionen sind betroffen. Sie leben täglich mit vielfältigen Therapieanforderungen, die Zeit, Struktur und Unterstützung benötigen. Das Pflegebegutachtungssystem sieht genau dafür Bewertungsmaßstäbe vor – nur werden diese in der Praxis selten vollständig ausgeschöpft.
Erfahrene Pflegeberater und Sozialdienste wissen: Schon wenige, aber gezielt formulierte Informationen können über Erfolg oder Misserfolg eines Antrags entscheiden.
So läuft die Bewertung ab
Im Modul „Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen“ prüft der Medizinische Dienst (MD), inwiefern die Betroffenen in der Lage sind, selbstständig mit ihrer Erkrankung umzugehen. Je nach Hilfebedarf werden Punkte vergeben – von minimaler Unterstützung bis zu einer Rundum-Betreuung.
Beispiele für typische Bewertungskriterien:
- Erinnerung oder Hilfe bei der Medikamenteneinnahme
- Kontrolle und Anpassung medizinischer Geräte (z. B. Insulinpumpe, Sauerstoffgerät)
- Unterstützung bei der Wundversorgung und Verbandwechsel
- Begleitung zu Arztterminen oder Therapien
- Anleitung und Motivation bei notwendigen Übungen oder Maßnahmen
Je höher der Unterstützungsbedarf, desto mehr Punkte fließen in die Gesamtbewertung ein – und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, einen höheren Pflegegrad zu bekommen.
Der Schlüssel: realistische Dokumentation
Viele Antragsteller scheitern nicht an zu geringem Bedarf, sondern an unzureichender Dokumentation. Ein häufiges Problem: Gutachter sehen die Situation nur für kurze Zeit – oft 60 bis 90 Minuten. Wer in dieser Zeit nicht klar vermitteln kann, wie herausfordernd der Alltag tatsächlich ist, gerät ins Hintertreffen.
Pflegefachkräfte raten daher dringend, ein Pflegetagebuch zu führen. Darin sollte festgehalten werden,
wann und wie oft Hilfe nötig ist – etwa beim Kontrollieren des Blutdrucks, bei Atemübungen, bei der Tabletteneinnahme oder bei Arztbesuchen.
Auch Angehörige können wertvolle Ergänzungen liefern: Wie oft müssen sie erinnern, motivieren oder eingreifen, wenn der Pflegebedürftige die Therapie verweigert oder vergisst?
Emotionen und Realität zählen
Wer den Gutachtertermin erlebt, weiß, wie entscheidend die Atmosphäre sein kann. Viele Antragsteller neigen dazu, ihre Einschränkungen herunterzuspielen – aus Stolz oder Scham. Doch der MD prüft nur, was er sieht und hört. Ehrlichkeit ist deshalb das A und O.
Wichtig ist: Es geht nicht darum, zu übertreiben, sondern die tatsächliche Belastung transparent zu zeigen. Wer beispielsweise unter Angstzuständen oder Erschöpfung leidet, sollte das klar ansprechen. Auch psychische oder kognitive Schwierigkeiten – etwa das Vergessen von Arztterminen – gehören ausdrücklich in die Bewertung.
Unterstützung nutzen – Beratungsangebote helfen
In fast jeder größeren Stadt gibt es kostenlose oder kostengünstige Pflegeberatungsstellen, die bei der Antragstellung helfen. Auch Sozialverbände wie VdK, SoVD oder die Pflegekassen selbst bieten Hilfe an.
Diese Experten wissen, worauf die Gutachter achten – und wie man die eigenen Bedürfnisse realistisch, aber wirkungsvoll formuliert. Ein Vorgespräch oder ein kurzer Check kann oft verhindern, dass wichtiger Pflegebedarf übersehen wird.
Fazit: Das unbekannte Modul als Türöffner
Viele Anträge scheitern nicht am fehlenden Pflegebedarf, sondern an Unwissenheit. Das Modul „Umgang mit der Krankheit“ ist dabei ein echter Schlüsselbereich: Es zeigt, wie viel Unterstützung tatsächlich nötig ist, um den Alltag zu bewältigen.
Wer seine Herausforderungen hier klar darlegt, realistisch dokumentiert und professionellen Rat einholt, verbessert seine Chancen erheblich – und verhindert, dass wertvolle Unterstützung verloren geht.
Denn am Ende geht es nicht um Paragrafen oder Formulare – sondern um Menschen, deren Leben jeden Tag von Krankheit geprägt ist. Und um die berechtigte Hoffnung, dafür auch die nötige Hilfe zu bekommen.


