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Schwerbehindert? Warum Merkzeichen G und B nicht immer anerkannt werden – Aktuelles Urteil erklärt die Gründe!

Im Alltag vieler Menschen mit Behinderungen tritt immer wieder die Frage auf: Wann stehen mir eigentlich die begehrten Merkzeichen G („erhebliche Gehbehinderung“) und B („Begleitung erforderlich“) zu? Ein aktuelles Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg bringt jetzt mehr Klarheit. Im Mittelpunkt steht dabei der differenzierte Umgang mit Gehbehinderungen, psychischen Erkrankungen, Schmerzsyndromen und den Anforderungen an die Mobilität im Straßenverkehr. Nachfolgender Artikel auf Bürger & Geld, dem Nachrichtenmagazin des Vereins Für soziales Leben e.V., erläutert die Urteilsgründe.

Hintergrund des Verfahrens: Worum ging es?

Die Klägerin, Jahrgang 1960, verfügte bereits über einen anerkannten Grad der Behinderung (GdB) von 60, später – nach Verschlechterung ihrer Hörbeeinträchtigung – sogar von 80. Sie beantragte dennoch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B mit Wirkung ab Januar 2013. Ihre Argumentation: Chronische Schmerzen, psychische Leiden sowie Einschränkungen der Beweglichkeit würden sie in ihrer Mobilität und im täglichen Leben massiv beeinträchtigen.

Das Verfahren: Was wurde beanstandet?

Trotz umfangreicher medizinischer Befundberichte und Atteste von Haus- und Fachärzten wurde der Antrag der Klägerin vom Versorgungsamt und nachfolgend vom Sozialgericht abgelehnt. Dabei stützten sich die Behörden und Gerichte nicht nur auf die aktenmäßige Prüfung, sondern ließen auch mehrere Gutachten erstellen.

  • Ein wichtiger Befund war, dass die Klägerin ihren Alltag grundsätzlich ohne Rollator meistern sowie Strecken bis zu 2 km zurücklegen kann, auch wenn sie dafür häufig mehr als 30 Minuten braucht.
  • Die bestehenden körperlichen und psychischen Einschränkungen wurden bei der Begutachtung zwar festgestellt, galten aber als nicht schwerwiegend oder als durch Training und Motivation überwindbar.

Die entscheidende Rechtsfrage: Wann liegt eine erhebliche Gehbehinderung vor?

Das Urteil erläutert ausführlich, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen G laut § 229 SGB IX (früher § 146 SGB IX) dann erfüllt sind, wenn das Gehvermögen aufgrund einer Behinderung erheblich beeinträchtigt ist. Als ortsübliche Wegstrecke gilt dabei eine Entfernung von circa 2 Kilometer, die normalerweise in 30 Minuten zu bewältigen ist.

Doch: Nicht jede subjektiv empfundene Erschwernis oder jede Zeitüberschreitung führt automatisch zur Anerkennung. Zentral ist, dass die Ursache der Einschränkung tatsächlich in einer relevanten Behinderung besteht – und nicht auf mangelndem Trainingszustand, Konditionsproblemen oder fehlender Motivation beruht. Gerade diese Differenzierung wird nach aktueller Rechtsprechung besonders herausgearbeitet.

Kernaussagen des Urteils:

  • Persönliche Schonung oder Gewöhnung an Hilfestellung begründen keinen Anspruch.
  • Die 2-km-Strecke ist Orientierung, aber keine starre Grenze.
  • Auch psychische Leiden müssen ihre Mobilitätsauswirkungen klar nachweisen.
  • Der Trainingszustand, aber auch Tagesform und Motivation, sind zu berücksichtigen, dürfen aber den Behinderungsbegriff nicht ausweiten.

Why wurde das Merkzeichen G abgelehnt?

Im vorliegenden Fall konnte die Klägerin zwar gelegentlich Wege nur mit Hilfe bewältigen und gab Orientierungsprobleme an. Doch weder die Sachverständigen noch die behandelnden Ärzte bestätigten einen Unterstützungsbedarf, der eindeutig und regelmäßig erforderlich gewesen wäre.

  • Besonders stützte sich das Gericht auf das querschnittartige Gutachten, wonach bei differenzierter Betrachtung die Einschränkungen nicht massiv genug waren.
  • Trainierbare Defizite (z.B. konditionsabhängige Müdigkeit, angstbasiertes Schonverhalten) bleiben für die Bewertung der Mobilitätsfähigkeit außer Betracht.

Was gilt für das Merkzeichen B?

Für das Merkzeichen B („Begleitung erforderlich“) muss ein regelmäßiger und tatsächlicher Bedarf an Unterstützung bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel vorliegen – und zwar infolge der Behinderung. Im Fall der Klägerin wurde zwar eine psychische Belastung festgestellt; die Sachverständigen kamen aber übereinstimmend zum Ergebnis, dass diese Hürden im Alltag durch Übung, Training oder Anpassung weitgehend überwindbar sind und keine dauerhafte Notwendigkeit für regelmäßige Begleitung begründen.

Bedeutung und Praxistipps

Das Urteil unterstreicht, wie hoch die Hürden für die Anerkennung der Merkzeichen G und B nach aktuellem Recht sind. Leitlinien für Betroffene:

  • Aktenlage und ärztliche Atteste sollten klar dokumentieren, dass Bewegungs- oder Orientierungsdefizite durch krankhafte Prozesse und nicht durch Trainingsmangel entstehen.
  • Die Begehung und eigenständige Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sollten nur durch die Behinderung selbst und nicht durch psychische Hemmungen oder fehlende Motivation unmöglich sein.
  • Notwendig ist eine objektivierbare, dauerhafte Einschränkung – vorübergehende oder motivationsbedingte Einschränkungen reichen nicht aus.

Fazit und Ausblick

Die Entscheidung zeigt: Eine hohe Behinderungsfeststellung (GdB) sichert noch nicht automatisch alle Nachteilsausgleiche. Für die begehrten Merkzeichen G und B müssen die gesetzlichen Voraussetzungen im Detail erfüllt und klar nachgewiesen sein. Gutachten spielen eine zentrale Rolle, aber auch die alltägliche Lebensführung, die Eigeninitiative und die medizinische Dokumentation. Wer einen Antrag auf Nachteilsausgleiche stellt, sollte sich von Fachleuten beraten lassen und seine Einschränkungen realistisch, differenziert und aussagekräftig belegen.

Quelle

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg auf sozialgerichtsbarkeit.de, Az. L 13 SB 89/16

Redakteure

  • ik

    Sozialrechtsexperte und Redakteur

    Ingo Kosick ist ein renommierter Experte im Bereich des Sozialrechts in Deutschland. Er engagiert sich seit über 30 Jahren in diesem Feld und hat sich als führende Autorität etabliert. Als Vorsitzender des Vereins Für soziales Leben e.V., der 2005 in Lüdinghausen gegründet wurde, setzt er sich für die Unterstützung von Menschen ein, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Der Verein bietet über das Internet Informationen, Beratung und Unterstützung für sozial benachteiligte Menschen an. Ingo Kosick ist zudem ein zentraler Autor und Redakteur auf der Plattform buerger-geld.org, die sich auf Themen wie Bürgergeld, Sozialleistungen, Rente und Kindergrundsicherung spezialisiert hat. Seine Artikel bieten fundierte Analysen und rechtlich aufgearbeitete Informationen, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützen sollen. Durch seine langjährige Erfahrung und sein Engagement hat Ingo Kosick maßgeblich dazu beigetragen, dass sozial benachteiligte Menschen in Deutschland besser informiert und unterstützt werden können.

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  • Peter Kosick
    Experte:

    Jurist und Redakteur

    Peter Kosick hat an der Universität Münster Rechtswissenschaften studiert und beide juristische Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen mit Erfolg abgelegt. Er arbeitet als freiberuflicher Jurist, ist Autor verschiedener Publikationen und hält Vorträge im Bereich Arbeits- und Sozialrecht. Seit mehr als 30 Jahren engagiert er sich im sozialen Bereich und ist seit der Gründung des Vereins "Für soziales Leben e.V." dort Mitglied. Peter Kosick arbeitet in der Online Redaktion des Vereins und ist der CvD. Seinen Artikeln sieht man an, dass sie sich auf ein fundiertes juristisches Fachwissen gründen. Peter hat ebenfalls ein Herz für die Natur, ist gern "draußen" und setzt sich für den Schutz der Umwelt ein. Seine Arbeit im Redaktionsteam von buerger-geld.org gibt ihm das Gefühl,  etwas Gutes für das Gemeinwohl zu tun.

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