Eine Brille ist für Millionen Menschen kein Luxus, sondern Überlebensnotwendigkeit im Alltag. Dennoch stoßen viele auf eine Mauer aus Paragrafen und Zuständigkeitsfragen, sobald es um finanzielle Hilfe dafür geht. Ein Urteil aus Oldenburg und aktuelle Regelungen der Krankenkassen zeigen, wie hart das System in solchen Fällen urteilen kann.
Der Fall einer schwerbehinderten Frau
2012 beantragte eine schwerbehinderte Frau aus Niedersachsen die Übernahme ihrer Brillenkosten von 178,50 Euro. Sie litt an mehreren schweren Erkrankungen wie Diabetes und Down-Syndrom und war stark weitsichtig. Ihre Begründung: Ohne Brille könne sie weder in ihrer Werkstatt noch im Alltag selbstständig agieren. Das Sozialgericht Oldenburg gab ihr zunächst recht und sah die Brille als „notwendige Eingliederungshilfe“ an.
Doch die Stadt legte Berufung ein – und gewann. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen sowie später auch das Bundessozialgericht entschieden: Keine Kostenübernahme.
Warum das Gericht ablehnte
Das Urteil stützt sich auf drei zentrale Punkte:
- Brille ist kein Fall der Eingliederungshilfe.
Eine Sehschwäche gilt nicht als wesentliche Behinderung, wenn sie durch eine Brille ausgeglichen werden kann. Entscheidend sei die Sehkraft mit Brille, nicht ohne. - Kein Anspruch gegen die Krankenkasse.
Nach § 33 SGB V werden Brillen nur bei schwerer Sehbeeinträchtigung übernommen. Eine normale Korrekturbrille fällt nicht darunter. - Brille gilt als Bestandteil des Regelbedarfs.
Brillenkosten sind laut Gericht im Regelsatz der Grundsicherung enthalten. 15,55 Euro pro Monat sind dafür rechnerisch vorgesehen – wer eine Brille braucht, müsse Rücklagen bilden.
Die Frau blieb auf ihren Kosten sitzen. Ein bitterer Schlag, der weit über ihren Einzelfall hinausgeht.
Juristische und soziale Signalwirkung
Für viele sozial schwache Menschen gleicht dieses Urteil einer kalten Dusche. Gerade für Bürgergeld-Empfänger, Rentner und Schwerbehinderte bedeutet eine Brille oft die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. „Der Sozialstaat lässt Sehschwache im Regen stehen“, kommentierten Sozialverbände damals empört in Fachportalen. Denn Sehhilfen sind keine Modeartikel, sondern medizinische Notwendigkeiten.
Dennoch gilt juristisch: Eine Standardbrille fällt unter den alltäglichen Lebensbedarf, der durch die Regelsätze abgedeckt ist. Nur wenn besondere medizinische Gründe vorliegen, greift der Sozialstaat ein.
Wann die Krankenkasse tatsächlich zahlt
Nach den aktuellsten Richtlinien von 2025 übernehmen gesetzliche Krankenkassen die Kosten für Brillengläser nur in eng begrenzten Fällen :
- bei mehr als 6 Dioptrien Kurz- oder Weitsichtigkeit,
- bei einer Hornhautverkrümmung über 4 Dioptrien,
- oder bei einer Sehfähigkeit unter 30 Prozent, selbst mit Korrektur.
Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre erhalten ihre Brillengläser dagegen grundsätzlich bezahlt – inklusive Kunststoffgläser und Sportbrillen.
Das Brillengestell aber, betont die Verbraucherzentrale, müsse in jedem Fall selbst gezahlt werden. Ebenso die gesetzliche Zuzahlung von 10 Prozent der Kosten (mindestens 5 Euro, höchstens 10 Euro).
Tabelle: Wann zahlt die Krankenkasse?
Situation | Anspruch auf Kostenübernahme | Hinweise |
---|---|---|
Kurz- oder Weitsichtigkeit ab 6,25 Dioptrien | Ja | Nur für Gläser, nicht Gestell |
Hornhautverkrümmung ab 4,25 Dioptrien | Ja | Nur mit ärztlichem Rezept |
Sehfähigkeit unter 30 % trotz Korrektur | Ja | Ärztliches Gutachten erforderlich |
Normale Sehschwäche unter diesen Werten | Nein | Brille selbst zahlen |
Kinder unter 14 Jahren | Ja | Kassenleistung |
Erwachsene mit leichter Sehschwäche | Nein | Eigenanteil notwendig |
Was gilt beim Bürgergeld?
Auch im Bürgergeld gibt es keine pauschale Kostenübernahme für eine neue Brille. Nach dem SGB II gehört sie zum sogenannten Regelbedarf. Nur Reparaturen defekter Brillen können in Ausnahmefällen als „unabweisbarer Mehrbedarf“ anerkannt werden.
Das Jobcenter kann einspringen, „wenn kein anderer Kostenträger zahlt und die Sehhilfe medizinisch erforderlich ist“, wie das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen 2025 entschied. Allerdings gilt das Urteil nur für Reparaturen, nicht für Neuanschaffungen.
Ein Sprecher des Jobcenters Hamm sagte gegenüber der HNA, das Urteil sei „kein Freifahrtschein“, sondern gelte „nur für Härtefälle“.
Möglichkeiten über Sozialhilfe oder Zuschüsse
Wer weder anspruchsberechtigt über die Krankenkasse noch über das Jobcenter ist, kann unter Umständen Hilfe über § 73 SGB XII („Leistungen in sonstigen Lebenslagen“) beantragen. Doch die Hürden sind hoch. Ein Brillenkauf zählt juristisch nicht als außergewöhnlicher Bedarf.
In manchen Städten existieren jedoch Härtefallfonds oder Stiftungen (etwa von Sozialverbänden oder Kirchen), die Zuschüsse für Sehhilfen gewähren. Viele Optiker arbeiten heute zudem mit Ratenzahlungsmodellen, falls Kundinnen und Kunden finanziell überfordert sind.
So bekommen Betroffene Unterstützung
- Augenarzt aufsuchen: Nur mit einem gültigen Rezept kann die Krankenkasse zahlen.
- Vertragspartner-Optiker wählen: Die Kassen arbeiten mit bestimmten Optikern zusammen, über die direkt abgerechnet wird.
- Zuzahlung leisten: 10 Prozent der Kosten bleibt der Eigenanteil.
- Härtefall prüfen: Bei nachweislicher Bedürftigkeit könnte das Jobcenter helfen – zumindest bei Reparaturen.
- Lokale Hilfsfonds kontaktieren: Sozialverbände oder Prothesenstiftungen unterstützen oft anonym.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Zahlt die Krankenkasse neue Brillen für Erwachsene?
Nur in Ausnahmefällen, etwa bei mehr als 6 Dioptrien oder gravierender Sehbehinderung.
Bekommen Kinder ihre Brillen bezahlt?
Ja. Bis zum 14. Lebensjahr zahlt die Krankenkasse die Gläser, teilweise auch Ersatz, wenn sich die Sehstärke ändert.
Übernimmt das Jobcenter die Kosten für Bürgergeld-Empfänger?
Nur für die Reparatur einer bestehenden Brille – nicht für Neubeschaffung.
Was gilt bei Schwerbehinderung?
Eine bloße Sehschwäche, auch bei Behinderten, begründet keinen Anspruch, wenn die Beeinträchtigung durch Brillen vollständig ausgeglichen werden kann.
Wie hoch ist der Eigenanteil bei Kassenleistung?
10 Prozent des Glaspreises, mindestens 5 Euro und höchstens 10 Euro.
Gibt es Zuschüsse für arme Rentner?
Regulär nicht – es sei denn, die Sehbehinderung erfüllt die strengen Zusatzkriterien. Einige Sozialhilfeträger prüfen Härtefälle individuell.
Hintergrund: Die Reform 2025
Zum 1. März 2025 wurden die sogenannten Festbeträge für Sehhilfen abgeschafft. Damit können Krankenkassen flexibler zahlen, müssen aber nicht. Stattdessen entscheiden sie individuell anhand medizinischer Indikationen.
Optiker:innen rechnen weiterhin über Verträge mit den Kassen ab. Verbraucherzentralen fordern jedoch mehr Transparenz, da die Beträge nicht öffentlich einsehbar sind. Patienten hätten „keine realistische Vorstellung, was sie am Ende zahlen müssen“, kritisieren Verbraucherschützer.
Ein System, das viele im Dunkeln lässt
Der Fall der schwerbehinderten Frau steht symptomatisch für die Lücken im Sozialrecht: Wer nicht blind oder hochgradig sehbehindert ist, muss seine Brille meist selbst zahlen. Das trifft besonders Pflegebedürftige, Rentnerinnen und Alleinerziehende.
„Gutes Sehen darf kein Luxus sein“, mahnte Sozialexperte Dr. Marcus Haller gegenüber Bürger & Geld. „Dass Brillen nur bei extremer Fehlsichtigkeit übernommen werden, zeigt die soziale Schieflage im System.“
Der Sozialstaat hat zwar Reformen angekündigt, um bestimmte Hilfsmittel künftig besser zu fördern – darunter Hörgeräte und Zahnprothesen. Doch Sehhilfen bleiben ein grauer Bereich.
Fazit: Wer nicht „blind genug“ ist, zahlt selbst
Brillen sind Alltagshilfen, die in Deutschland sozialrechtlich als normale Konsumgüter gelten – obwohl sie für viele Menschen über Lebensqualität und Sicherheit entscheiden. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts macht deutlich: Nur schwere medizinische Fälle werden unterstützt.
Für den Großteil der Bevölkerung gilt daher: Brillengläser und Gestell müssen selbst bezahlt werden. Lediglich Kinder, extrem Sehgeschädigte oder Bürgergeld-Empfänger bei Reparaturfällen dürfen auf Unterstützung hoffen.
Es bleibt die bittere Erkenntnis: Zwischen sozialer Fürsorge und finanzieller Realität klafft beim Thema Brille eine deutliche Lücke. Wer sich keine neue leisten kann, sieht sprichwörtlich alt aus.