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Wann psychische Erkrankungen den Grad der Behinderung erhöhen können

Bürger & Geld – Das Nachrichtenmagazin des Vereins Für soziales Leben e. V. berichtet: Wenn eine körperliche Behinderung das Leben ohnehin massiv einschränkt, kann eine begleitende psychische Erkrankung den Leidensdruck doppelt schwer machen. Doch darf das auch bei der Einstufung des Grades der Behinderung (GdB) berücksichtigt werden? Dieser Beitrag erklärt, wann aus zusätzlichem seelischem Leiden ein rechtlicher Anspruch auf eine höhere Einstufung entsteht.

Menschen mit körperlichen Einschränkungen kämpfen oft mit chronischen Schmerzen, Mobilitätsproblemen oder Funktionsverlusten. Doch auch Depressionen, Ängste oder Anpassungsstörungen als Folge dieser Leiden sind keine Seltenheit. Entscheidend ist, ob solche psychischen Erkrankungen den gesamten Gesundheitszustand verschlimmern – und damit Einfluss auf den GdB nehmen.

Wie der Grad der Behinderung berechnet wird

Der Grad der Behinderung (GdB) wird nach sozialmedizinischen Maßstäben des Versorgungsmedizinischen Grundsatzkatalogs (VMG) bewertet. Er spiegelt wider, wie stark die körperliche, geistige oder seelische Gesundheit beeinträchtigt ist. Der Wert reicht von 20 bis 100 – in Zehnerschritten.

Wichtig: Der GdB misst nicht die Summe einzelner Leiden, sondern die Gesamtauswirkung auf das tägliche Leben. Das Bundessozialgericht betonte bereits mehrfach, dass der Gesamt-GdB „unter Beachtung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen“ festzulegen ist.

Wenn körperliche und seelische Leiden zusammentreffen

Viele Betroffene leiden an beidem: einer chronischen körperlichen Erkrankung und psychischen Folgen. Eine Depression aufgrund chronischer Schmerzen oder Angststörung infolge körperlicher Unsicherheit gehört im sozialmedizinischen Alltag längst dazu.

Die entscheidende Frage lautet: Verstärken sich die Einschränkungen gegenseitig – oder bestehen sie unabhängig voneinander?

Wenn etwa eine chronische Arthrose zu einer Depression führt, kann das depressive Leiden den Gesamt-GdB erhöhen. Wenn die psychische Erkrankung aber keine zusätzliche funktionelle Beeinträchtigung verursacht, bleibt sie im Einzelfall ohne Auswirkung.

Tabelle: Beispielhafte Wechselwirkungen beim GdB

Ausgangsleiden (körperlich)Begleiterkrankung (psychisch)Wirkung auf den Gesamt-GdBBemerkung
Multiple Sklerose (GdB 60)Reaktive Depression (GdB 30)Gesamt-GdB 70Verstärkung durch erhebliche Alltagsbeeinträchtigung
Rückenmarksverletzung (GdB 80)Angststörung (GdB 20)Gesamt-GdB 80Kein Einfluss, da Angststörung kompensierbar
Chronische Schmerzen (GdB 50)Medium Depression (GdB 40)Gesamt-GdB 60Moderate Wechselwirkung anerkannt
Diese Werte dienen nur der Orientierung. Die tatsächliche Bewertung hängt immer vom Einzelfall und von ärztlichen Gutachten ab.

Was Fachärzte und Gerichte dazu sagen

Die sozialmedizinische Bewertung berücksichtigt zunehmend die psychische Dimension körperlicher Leiden. Laut einer Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (Az. L 6 SB 333/19) kann eine depressive Störung, die aus einer körperlichen Erkrankung resultiert, den GdB „spürbar erhöhen“, wenn sie sich eigenständig im Alltag auswirkt.

Auch der Ärztliche Sachverständigenrat betont, dass psychische Folgestörungen ernstzunehmende Behinderungsfaktoren sind. Entscheidend sei, wie sehr sie die Lebensführung, Kommunikation oder Selbstversorgung dauerhaft einschränken.

Kann eine psychische Erkrankung allein den GdB erhöhen?

Ja – wenn sie eigenständig zur Funktionsbeeinträchtigung beiträgt. Liegt beispielsweise eine deutliche Anpassungsstörung vor, die über eine typische Reaktion hinausgeht, fließt sie mit eigenem Gewicht in die Gesamtbewertung ein.

Aber: Handelt es sich nur um eine vorübergehende seelische Belastung, wird diese nicht dauerhaft berücksichtigt. Der GdB soll schließlich den dauerhaften Zustand widerspiegeln, nicht kurzfristige Krisen.

Wie läuft die Bewertung praktisch ab?

  1. Ärztliche Gutachten beschreiben alle bestehenden Gesundheitsstörungen.
  2. Jede einzelne Beeinträchtigung wird nach VMG mit einem Richtwert versehen.
  3. Danach wird der Gesamt-GdB auf Basis der Gesamtwirkung festgelegt.
  4. Psychische Erkrankungen werden zusätzlich dokumentiert und auf Verstärkungen geprüft.
  5. Die Entscheidung trifft das zuständige Versorgungsamt.

Tipp: Betroffene sollten bei der Antragstellung unbedingt psychische Beschwerden genau benennen und durch Fachärztinnen oder Psychotherapeutinnen belegen. Ohne Nachweis droht, dass diese Leiden unberücksichtigt bleiben.

FAQ: Häufige Fragen zum Grad der Behinderung

Kann sich der GdB im Lauf der Zeit ändern?

Ja. Wenn sich der Gesundheitszustand verbessert oder verschlechtert, kann eine Neufeststellung beantragt werden.

Welche psychischen Erkrankungen werden anerkannt?

Anerkannt werden depressive Störungen, Angst- und Zwangserkrankungen, posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sowie emotionale Anpassungsstörungen.

Wie stark muss eine Depression sein, um berücksichtigt zu werden?

Leichte depressive Episoden führen meist nicht zu einer Erhöhung. Mittlere bis schwere Verlaufsformen können jedoch deutliche Auswirkungen haben.

Wie argumentiere ich im Antrag richtig?

Wichtig ist eine fachärztliche Diagnose, die belegt, wie die psychische Erkrankung den Alltag zusätzlich erschwert – etwa bei Konzentration, Kommunikation oder Mobilität.

Fazit

Psychische Erkrankungen sind im Behindertenrecht längst keine Nebensache mehr. Wenn Körper und Seele gemeinsam leiden, kann das Zusammenspiel den gesamten GdB nach oben bewegen – vorausgesetzt, die seelische Störung wirkt sich tatsächlich funktionell aus.
Für Betroffene lohnt es sich, psychische Beschwerden offen darzulegen und ärztlich attestieren zu lassen. Denn nur, wer die ganze Schwere seiner Einschränkung nachweist, erhält auch die sozialrechtliche Anerkennung, die ihm zusteht.

Redakteure

  • Peter Kosick

    Jurist und Redakteur

    Peter Kosick hat an der Universität Münster Rechtswissenschaften studiert und beide juristische Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen mit Erfolg abgelegt. Er arbeitet als freiberuflicher Jurist, ist Autor verschiedener Publikationen und hält Vorträge im Bereich Arbeits- und Sozialrecht. Seit mehr als 30 Jahren engagiert er sich im sozialen Bereich und ist seit der Gründung des Vereins "Für soziales Leben e.V." dort Mitglied. Peter Kosick arbeitet in der Online Redaktion des Vereins und ist der CvD. Seinen Artikeln sieht man an, dass sie sich auf ein fundiertes juristisches Fachwissen gründen.

    Peter hat ebenfalls ein Herz für die Natur, ist gern "draußen" und setzt sich für den Schutz der Umwelt ein.

    Seine Arbeit im Redaktionsteam von buerger-geld.org gibt ihm das Gefühl,  etwas Gutes für das Gemeinwohl zu tun.

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  • ik
    Experte:

    Sozialrechtsexperte und Redakteur

    Ingo Kosick ist ein renommierter Experte im Bereich des Sozialrechts in Deutschland. Er engagiert sich seit über 30 Jahren in diesem Feld und hat sich als führende Autorität etabliert. Als Vorsitzender des Vereins Für soziales Leben e.V., der 2005 in Lüdinghausen gegründet wurde, setzt er sich für die Unterstützung von Menschen ein, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Der Verein bietet über das Internet Informationen, Beratung und Unterstützung für sozial benachteiligte Menschen an.

    Ingo Kosick ist zudem ein zentraler Autor und Redakteur auf der Plattform buerger-geld.org, die sich auf Themen wie Bürgergeld, Sozialleistungen, Rente und Kindergrundsicherung spezialisiert hat. Seine Artikel bieten fundierte Analysen und rechtlich aufgearbeitete Informationen, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützen sollen.

    Durch seine langjährige Erfahrung und sein Engagement hat Ingo Kosick maßgeblich dazu beigetragen, dass sozial benachteiligte Menschen in Deutschland besser informiert und unterstützt werden können.

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