EuGH erkennt Kindererziehungszeiten im EU-Ausland für Rente im Inland an
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 7. Juli 2022 (C‑576/20) markiert einen Meilenstein im europäischen Sozialrecht. Es betrifft die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die in anderen EU-Mitgliedstaaten verbracht wurden, bei der Rentenberechnung. Diese Entscheidung hat erhebliche Auswirkungen für Personen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch machen und dabei Kinder erzogen haben. In diesem Artikel erklären wir den Sachverhalt, die wichtigsten Entscheidungsgründe des EuGH und die praktische Bedeutung des Urteils für deutsche Versicherte und ihre Rente in Deutschland.
Sachverhalt des Falls vor dem Europäischen Gerichtshof
Die Klägerin, eine österreichische Staatsbürgerin, arbeitete zunächst selbstständig in Österreich. Im Jahr 1987 zog sie nach Belgien, wo sie zwei Kinder gebar und sich deren Erziehung widmete. Während ihrer Zeit in Belgien übte sie keine Erwerbstätigkeit aus, erwarb keine Versicherungszeiten und erhielt keine Leistungen für die Kindererziehung. Ein ähnlicher Zeitraum folgte in Ungarn. 1993 kehrte sie nach Österreich zurück, kümmerte sich noch über ein Jahr um die Kinder, war dort versicherungspflichtig und zahlte wieder Beiträge ins österreichische Sozialversicherungssystem. Anschließend arbeitete sie weiter in Österreich bis zu ihrem Ruhestand.
Die österreichische Rentenversicherung lehnte die Berücksichtigung der in Belgien und Ungarn verbrachten Kindererziehungszeiten bei der Berechnung der österreichischen Altersrente ab. Dagegen klagte die Betroffene, da sie eine Benachteiligung wegen der Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts sah.
Die wichtigsten Entscheidungsgründe des EuGH
Europäisches Diskriminierungsverbot und Freizügigkeitsrecht
Der EuGH stellte klar, dass es dem Diskriminierungsverbot und dem EU-Grundrecht auf Freizügigkeit widerspricht, wenn rentensteigernde Kindererziehungszeiten nur anerkannt werden, wenn sie im Inland verbracht wurden. Wer als Bürger eines Mitgliedstaates von der europäischen Freizügigkeit Gebrauch macht, darf keine Nachteile bei den Rentenansprüchen in seinem Heimatstaat erfahren.
Anwendung von Art. 44 VO (EG) Nr. 987/2009
Die Verordnung regelt die Koordination der Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten. Der EuGH entschied, dass Art. 44 dieser Verordnung zwar die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten regelt, jedoch keine abschließende Vorschrift darstellt. Vielmehr muss das nationale Rentensystem eines Mitgliedstaates auch Kindererziehungszeiten anerkennen, die in anderen EU-Staaten entstanden sind, sofern die betreffende Person eine hinreichende Verbindung zum rentenzahlungspflichtigen Staat hat und dort zuvor und danach gearbeitet sowie Beiträge entrichtet hat.
Rechtsprechung bestätigt frühere Entscheidung
Der EuGH beruft sich auf seine frühere Rechtsprechung aus dem Urteil „Reichel-Albert“ (C-522/10). Schon damals wurde entschieden, dass Zeiten der Kindererziehung im EU-Ausland unter bestimmten Voraussetzungen in die Rentenberechnung einzubeziehen sind. Die nunmehr geltende europäische Regelung bestätigt und kodifiziert diese Grundsätze.
Keine eigenständige Rentenanwartschaft im Ausland nötig
Maßgeblich ist, dass für die Anerkennung der ausländischen Kindererziehungszeiten im Heimatstaat keine eigenständige Anwartschaft in dem anderen EU-Land erworben werden muss, sofern keine Leistungen dort bezogen werden und keine inländischen Vorschriften dagegen sprechen.
Folgen und Bedeutung für deutsche Versicherte
- Stärkere Anerkennung der EU-Freizügigkeit: Erziehende Eltern, die zeitweise im Ausland waren, müssen für diese Erziehungszeiten künftig keine Nachteile bei ihren heimischen Rentenansprüchen mehr fürchten.
- Prüfung für deutsche Rentenbezieher: Seit dem EuGH-Urteil empfiehlt sich für deutsche Versicherte, die Kinder im EU-Ausland erzogen haben, eine Überprüfung beziehungsweise Antragsstellung bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV), ob die ausländischen Zeiten anerkannt werden.
- Wichtige Voraussetzung: Damit die Erziehungszeiten im Ausland der deutschen Rente zugerechnet werden, muss nach Rückkehr mindestens ein Beitrag in die heimische Rentenversicherung eingezahlt worden sein.
- Gleichstellung für Mütter und Väter: Das Urteil stärkt insbesondere die gleichberechtigte Behandlung von Müttern und Vätern, die wegen Erziehung im Ausland bisher im Nachteil waren.
Fazit: Kindererzieung werden für die Rente in der EU gleichbehandelt
Mit dem Urteil C‑576/20 hat der EuGH eine wegweisende Entscheidung zugunsten der europaweiten Mobilität und Gleichbehandlung getroffen. Für Rentenversicherte ergibt sich mehr Rechtssicherheit und Schutz vor Benachteiligung bei grenzüberschreitenden Lebensläufen, ohne dass eigene Anwartschaften im EU-Ausland nötig sind. Versicherte in Deutschland und anderen EU-Ländern sollten ihre individuellen Ansprüche nach dem Urteil prüfen und gegebenenfalls geltend machen.