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EuGH Urteil: Kindererziehungszeiten im EU-Ausland stärken Rente – Folgen für deutsche Rentner*innen

Wie beeinflusst das wegweisende EuGH-Urteil C-576/20 die Rentenansprüche von Eltern, die Kinder im EU-Ausland erzogen haben? Bürger & Geld, das Nachrichtenmagazin des Vereins Für soziales Leben e.V., beleuchtet die Hintergründe und Folgen der Entscheidung. Erfahren Sie in unserer aktuellen Analyse, warum das Urteil für mehr soziale Gerechtigkeit und Freizügigkeit sorgt.

EuGH erkennt Kindererziehungszeiten im EU-Ausland für Rente im Inland an

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 7. Juli 2022 (C‑576/20) markiert einen Meilenstein im europäischen Sozialrecht. Es betrifft die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die in anderen EU-Mitgliedstaaten verbracht wurden, bei der Rentenberechnung. Diese Entscheidung hat erhebliche Auswirkungen für Personen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch machen und dabei Kinder erzogen haben. In diesem Artikel erklären wir den Sachverhalt, die wichtigsten Entscheidungsgründe des EuGH und die praktische Bedeutung des Urteils für deutsche Versicherte und ihre Rente in Deutschland.

Sachverhalt des Falls vor dem Europäischen Gerichtshof

Die Klägerin, eine österreichische Staatsbürgerin, arbeitete zunächst selbstständig in Österreich. Im Jahr 1987 zog sie nach Belgien, wo sie zwei Kinder gebar und sich deren Erziehung widmete. Während ihrer Zeit in Belgien übte sie keine Erwerbstätigkeit aus, erwarb keine Versicherungszeiten und erhielt keine Leistungen für die Kindererziehung. Ein ähnlicher Zeitraum folgte in Ungarn. 1993 kehrte sie nach Österreich zurück, kümmerte sich noch über ein Jahr um die Kinder, war dort versicherungspflichtig und zahlte wieder Beiträge ins österreichische Sozialversicherungssystem. Anschließend arbeitete sie weiter in Österreich bis zu ihrem Ruhestand.

Die österreichische Rentenversicherung lehnte die Berücksichtigung der in Belgien und Ungarn verbrachten Kindererziehungszeiten bei der Berechnung der österreichischen Altersrente ab. Dagegen klagte die Betroffene, da sie eine Benachteiligung wegen der Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts sah.

Die wichtigsten Entscheidungsgründe des EuGH

Europäisches Diskriminierungsverbot und Freizügigkeitsrecht

Der EuGH stellte klar, dass es dem Diskriminierungsverbot und dem EU-Grundrecht auf Freizügigkeit widerspricht, wenn rentensteigernde Kindererziehungszeiten nur anerkannt werden, wenn sie im Inland verbracht wurden. Wer als Bürger eines Mitgliedstaates von der europäischen Freizügigkeit Gebrauch macht, darf keine Nachteile bei den Rentenansprüchen in seinem Heimatstaat erfahren.

Anwendung von Art. 44 VO (EG) Nr. 987/2009

Die Verordnung regelt die Koordination der Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten. Der EuGH entschied, dass Art. 44 dieser Verordnung zwar die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten regelt, jedoch keine abschließende Vorschrift darstellt. Vielmehr muss das nationale Rentensystem eines Mitgliedstaates auch Kindererziehungszeiten anerkennen, die in anderen EU-Staaten entstanden sind, sofern die betreffende Person eine hinreichende Verbindung zum rentenzahlungspflichtigen Staat hat und dort zuvor und danach gearbeitet sowie Beiträge entrichtet hat.

Rechtsprechung bestätigt frühere Entscheidung

Der EuGH beruft sich auf seine frühere Rechtsprechung aus dem Urteil „Reichel-Albert“ (C-522/10). Schon damals wurde entschieden, dass Zeiten der Kindererziehung im EU-Ausland unter bestimmten Voraussetzungen in die Rentenberechnung einzubeziehen sind. Die nunmehr geltende europäische Regelung bestätigt und kodifiziert diese Grundsätze.

Keine eigenständige Rentenanwartschaft im Ausland nötig

Maßgeblich ist, dass für die Anerkennung der ausländischen Kindererziehungszeiten im Heimatstaat keine eigenständige Anwartschaft in dem anderen EU-Land erworben werden muss, sofern keine Leistungen dort bezogen werden und keine inländischen Vorschriften dagegen sprechen.

Folgen und Bedeutung für deutsche Versicherte

  • Stärkere Anerkennung der EU-Freizügigkeit: Erziehende Eltern, die zeitweise im Ausland waren, müssen für diese Erziehungszeiten künftig keine Nachteile bei ihren heimischen Rentenansprüchen mehr fürchten.
  • Prüfung für deutsche Rentenbezieher: Seit dem EuGH-Urteil empfiehlt sich für deutsche Versicherte, die Kinder im EU-Ausland erzogen haben, eine Überprüfung beziehungsweise Antragsstellung bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV), ob die ausländischen Zeiten anerkannt werden.
  • Wichtige Voraussetzung: Damit die Erziehungszeiten im Ausland der deutschen Rente zugerechnet werden, muss nach Rückkehr mindestens ein Beitrag in die heimische Rentenversicherung eingezahlt worden sein.
  • Gleichstellung für Mütter und Väter: Das Urteil stärkt insbesondere die gleichberechtigte Behandlung von Müttern und Vätern, die wegen Erziehung im Ausland bisher im Nachteil waren.

Fazit: Kindererzieung werden für die Rente in der EU gleichbehandelt

Mit dem Urteil C‑576/20 hat der EuGH eine wegweisende Entscheidung zugunsten der europaweiten Mobilität und Gleichbehandlung getroffen. Für Rentenversicherte ergibt sich mehr Rechtssicherheit und Schutz vor Benachteiligung bei grenzüberschreitenden Lebensläufen, ohne dass eigene Anwartschaften im EU-Ausland nötig sind. Versicherte in Deutschland und anderen EU-Ländern sollten ihre individuellen Ansprüche nach dem Urteil prüfen und gegebenenfalls geltend machen.

Quelle

https://www.eu-gleichbehandlungsstelle.de/eugs-de/experten/newsletter/anrechnung-kindererziehungszeiten-in-anderen-eu-staaten-2124748

Redakteure

  • ik

    Sozialrechtsexperte und Redakteur

    Ingo Kosick ist ein renommierter Experte im Bereich des Sozialrechts in Deutschland. Er engagiert sich seit über 30 Jahren in diesem Feld und hat sich als führende Autorität etabliert. Als Vorsitzender des Vereins Für soziales Leben e.V., der 2005 in Lüdinghausen gegründet wurde, setzt er sich für die Unterstützung von Menschen ein, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Der Verein bietet über das Internet Informationen, Beratung und Unterstützung für sozial benachteiligte Menschen an. Ingo Kosick ist zudem ein zentraler Autor und Redakteur auf der Plattform buerger-geld.org, die sich auf Themen wie Bürgergeld, Sozialleistungen, Rente und Kindergrundsicherung spezialisiert hat. Seine Artikel bieten fundierte Analysen und rechtlich aufgearbeitete Informationen, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützen sollen. Durch seine langjährige Erfahrung und sein Engagement hat Ingo Kosick maßgeblich dazu beigetragen, dass sozial benachteiligte Menschen in Deutschland besser informiert und unterstützt werden können.

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  • Peter Kosick

    Jurist und Redakteur

    Peter Kosick hat an der Universität Münster Rechtswissenschaften studiert und beide juristische Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen mit Erfolg abgelegt. Er arbeitet als freiberuflicher Jurist, ist Autor verschiedener Publikationen und hält Vorträge im Bereich Arbeits- und Sozialrecht. Seit mehr als 30 Jahren engagiert er sich im sozialen Bereich und ist seit der Gründung des Vereins "Für soziales Leben e.V." dort Mitglied. Peter Kosick arbeitet in der Online Redaktion des Vereins und ist der CvD. Seinen Artikeln sieht man an, dass sie sich auf ein fundiertes juristisches Fachwissen gründen. Peter hat ebenfalls ein Herz für die Natur, ist gern "draußen" und setzt sich für den Schutz der Umwelt ein. Seine Arbeit im Redaktionsteam von buerger-geld.org gibt ihm das Gefühl,  etwas Gutes für das Gemeinwohl zu tun.

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