Ein aktuelles Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt sorgt für Klarheit bei der Anrechnung von Überstundenvergütungen auf die Erwerbsminderungsrente. Es geht um die Frage, ob Überstunden, die Jahre vor Beginn der Rente angesammelt und erst später ausgezahlt werden, den Rentenanspruch als Hinzuverdienst schmälern dürfen. Das ausgeurteilte Verfahren hat große Bedeutung für Arbeitnehmer mit Arbeitszeitkonten – und könnte die künftige Sozialrechtspraxis nachhaltig beeinflussen. Die Revision zum Bundessozialgericht ist zugelassen, dortiges Az: B 5 R 15/24 R
Sachverhalt: Streit um die Anrechnung von Überstunden
Im Mittelpunkt steht eine langjährig beschäftigte Arbeitnehmerin, die seit Februar 1996 bei einer Bank angestellt war und über Jahre hinweg mehr als 900 Überstunden auf Dispo- und Langzeitkonten ansparte. Nach Eintritt einer längeren Arbeitsunfähigkeit im November 2019 stellte sie einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente. Ihr Arbeitsverhältnis endete laut Tarifvertrag mit dem Beginn der Rentenzahlungen – in diesem Fall am 30. April 2021, zeitgleich mit der Aufnahme der laufenden Zahlungen ab Mai 2021.
Mit der Endabrechnung wurden ihr nicht nur Resturlaubstage und anteiliges Gehalt, sondern vor allem die angesammelten Überstunden ausbezahlt – ein Bruttobetrag von insgesamt 33.740,06€. Die Deutsche Rentenversicherung rechnete diesen Betrag nahezu vollständig als „Hinzuverdienst“ nach § 96a SGB VI (Fassung Juli 2017 bis Dezember 2022) an und kürzte die Erwerbsminderungsrente entsprechend deutlich.
Die Klägerin wehrte sich: Sie argumentierte mit Bezug auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dass nur Arbeitsentgelt, das rechtlich und tatsächlich während des Rentenbezugs entsteht, als Hinzuverdienst gewertet werden dürfe. Überstunden, die Jahre vorher erarbeitet wurden, dürften nicht den Rentenanspruch schmälern – auch wenn die Auszahlung nach Rentenbeginn erfolge.
Entscheidungsgründe des Gerichts: Überstunden kein Hinzuverdienst
Das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt gab der Klägerin recht. Die wichtigsten Argumente und Kernaussagen des Urteils:
- Keine Anrechnung von vor Rentenbeginn geleisteten Überstunden: Das Gericht widersprach der Rentenversicherung und urteilte, dass ausschließlich vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit und somit vor Rentenbeginn geleistete Überstunden nicht als Hinzuverdienst im Sinne von § 96a SGB VI anzurechnen sind. Die Zahlung mag zwar im Zeitraum des Rentenbezugs erfolgen, ist aber rechtlich dem Zeitraum vor Rentenbeginn zuzuordnen.
- Kongruenzprinzip weiter gültig: Der Sinn und Zweck der Hinzuverdienstregelung im SGB VI ist die Verhinderung einer „Übersicherung“ – also, dass Versicherte durch Rente und Hinzuverdienst zusammen mehr bekommen als vor Eintritt der Erwerbsminderung. Doch eine zeitlich-rechtliche Kongruenz zwischen Leistungsentstehung und Rentenbezug ist weiterhin Voraussetzung, auch nach dem Inkrafttreten des Flexirentengesetzes am 1. Juli 2017.
- Urlaubsabgeltung und Überstunden unterscheiden sich: Eine Urlaubsabgeltung sei als Hinzuverdienst anzurechnen – da hierfür kein synallagmatisches (leistungsgebundenes) Verhältnis zur Arbeitsleistung nötig ist. Überstunden hingegen sind die konkrete Gegenleistung für mehrgeleistete Arbeit zu einem früheren Zeitpunkt. Das Gericht betonte: Für Überstundenvergütung muss der Versicherte die Arbeitsleistung erbracht haben, und zwar lange vor Eintritt des Rentenfalls.
- Keine Bedeutung des Auszahlungszeitpunkts: Der Ablauf des Arbeitsverhältnisses und die spätere Auszahlung der Überstunden bleibt für die rechtliche Zuordnung ohne Bedeutung. Ausschlaggebend ist allein, wann die Arbeitsleistung erbracht wurde.
Auswirkungen für die Praxis und Sozialrecht
Das Urteil hat weitreichende Bedeutung:
- Arbeitnehmer, die über Jahre Überstunden ansparen und diese erst beim Austritt aus dem Unternehmen ausgezahlt bekommen, müssen diese Beträge nicht als Hinzuverdienst auf die Erwerbsminderungsrente anrechnen lassen – sofern die Überstunden vor dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit und Rentenzahlung geleistet wurden.
- Die Entscheidung bringt mehr Rechtssicherheit für Betroffene und Sozialberatung, da sie die Unterscheidung zwischen Arbeitsentgelten aus konkreter Arbeitsleistung und sonstigen Einmalzahlungen weiter schärft.
- Das Gericht ließ die Revision zu, um die grundsätzliche Bedeutung für viele Störfälle und künftige Fälle hervorzuheben. Die höchstrichterliche Klärung durch das Bundessozialgericht steht noch aus.
Zusammenfassung: Überstunden bleiben rentenneutral – aber nur unter klaren Bedingungen
Wer vor dem Eintritt in die Erwerbsminderungsrente fleißig Überstunden angesammelt hat und diese erst zum Schluss ausgezahlt bekommt, kann aufatmen: Solche Zahlungen sind nach Auffassung des Landessozialgerichts kein Hinzuverdienst, solange sie ausschließlich vor der Arbeitsunfähigkeit und dem Rentenbeginn erarbeitet wurden. Die Entscheidung stärkt die Rechte der Arbeitnehmer und sorgt für mehr Klarheit im Rentenrecht – ein wichtiges Signal für alle, die vor der Rente noch einmal fleißig gearbeitet haben. Die Entscheidung ist nicht endgültig. Es ist ein Revisionsverfahren beim Bundessozialgericht anhängig!
Quelle
https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/177494