Das Bundessozialgericht (BSG) hat unter dem Az. B 4 AS 12/23 R entschieden, unter welchen Voraussetzungen Unionsbürger und deren Familienangehörige einen Anspruch auf Bürgergeld (Grundsicherung für Arbeitsuchende) nach dem SGB II haben. Relevant ist Entscheidung insbesondere für EU-Bürger, die bereits längere Zeit in Deutschland leben. Wir erklären sie hier auf Bürger & Geld!
Sachverhalt: Streit um den Leistungsanspruch einer polnischen Staatsangehörigen und ihres Kindes
Die Klägerin, geboren 1979, ist polnische Staatsangehörige und Mutter eines 2018 geborenen Kindes. Beide leben in Deutschland und sind dort behördlich gemeldet. Die Klägerin war bis Mitte 2017 als Prostituierte tätig und war nachweislich vom 20. April 2015 bis 6. September 2016 sowie ab 7. Juli 2017 durchgehend in Deutschland gemeldet. Zwischenzeitlich bestand eine kurze Meldelücke.
Das Jobcenter lehnte die ab dem 1. Februar 2020 beantragten Leistungen ab, da die Klägerin nach Auffassung der Behörde nur ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche habe und daher vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei. Im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzes erhielten die Kläger vorläufig Leistungen für den Zeitraum vom 4. Juni bis 30. November 2020. Ein weiterer Antrag auf Leistungen ab dem 1. Dezember 2020 wurde abgelehnt.
Das Sozialgericht verpflichtete das Jobcenter, ab dem 20. April 2020 Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Das Landessozialgericht wies die Berufung des Jobcenters zurück, sodass der Fall schließlich vor dem BSG landete.
Urteilsgründe des Bundessozialgerichts
Im Urteil geht es um das Arbeitslosengeld II und Sozialgeld. Heute heißt das Bürgergeld (Grundsicherung für Arbeitsuchende).
Das BSG wies die Revision des Jobcenters zurück und bestätigte damit die Entscheidung der Vorinstanzen. Die zentralen Urteilsgründe im Überblick:
Gewöhnlicher Aufenthalt als Anspruchsvoraussetzung
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II setzt ein Anspruch auf Bürgergeld voraus, dass die Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Das BSG betont, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt nicht zwingend ein materielles Aufenthaltsrecht voraussetzt. Entscheidend ist, ob die Person ihren Lebensmittelpunkt dauerhaft in Deutschland hat. Die Prognose, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt, ist anhand aller relevanten Umstände zu treffen, etwa Melderegistereintrag, Lebensumstände, Bleibewille und tatsächlicher Aufenthalt.
Die Klägerin konnte nachweisen, dass sie seit ihrer ersten Anmeldung am 20. April 2015 ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hatte, auch wenn es eine kurze Meldelücke gab. Das Landessozialgericht hatte dies durch objektive Umstände wie Kundenkontakte, persönlich übergebene Behördenschreiben und Mietzahlungen als belegt angesehen
Leistungsausschluss und Ausnahme für Unionsbürger
Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer von Leistungen ausgeschlossen, wenn ihr Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Für Unionsbürger gilt jedoch die Ausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II: Wer seit mindestens fünf Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, ist nicht vom Leistungsbezug ausgeschlossen.
Das BSG stellt klar, dass für die Fünfjahresfrist eine ununterbrochene Meldung nicht erforderlich ist, solange der gewöhnliche Aufenthalt nachweisbar ist. Unwesentliche Unterbrechungen, wie ein kurzer Heimatbesuch, sind unschädlich.
Anspruch des Kindes
Auch das Kind der Klägerin hat einen Anspruch auf Bürgergeld (seinerzeit Sozialgeld) nach dem SGB II, wenn es mit einer erwerbsfähigen, leistungsberechtigten Person in einer Bedarfsgemeinschaft lebt. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II gilt für das Kind nicht, da es selbst nicht erwerbsfähig ist..
Zusammenfassung zum Bürgergeld-Anspruch für EU-Ausländer
Das BSG-Urteil stärkt die Rechtsposition von Unionsbürgern, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Auch wenn das Aufenthaltsrecht ursprünglich nur zum Zweck der Arbeitsuche bestand, kann nach fünf Jahren gewöhnlichen Aufenthalts ein Anspruch auf ALG II und Sozialgeld bestehen. Entscheidend ist der Nachweis des dauerhaften Aufenthalts und des Bleibewillens.
Auch Kinder, die mit einer leistungsberechtigten Person in einer Bedarfsgemeinschaft leben, haben einen Bürgergeld-Anspruch, unabhängig von deren Aufenthaltsstatus, solange die Voraussetzungen des SGB II erfüllt sind.