Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat mit Urteil vom 27.01.2025 (Az.: L 4 R 3332/21) ein wichtiges sozialrechtliches Zeichen gesetzt: Der Kläger erhält eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.01.2020. Dieses Urteil ist insbesondere für Menschen mit psychischen Erkrankungen von großer Bedeutung, denn es stärkt die Rechte Betroffener nachhaltig und schafft mehr Rechtssicherheit im Umgang mit der Deutschen Rentenversicherung.
Sachverhalt: Worum ging es im Fall?
Der Kläger, geboren 1970, war nach seiner Ausbildung zunächst als Konstrukteur tätig und später selbstständig. Nach längerer Arbeitslosigkeit erkrankte er schwer – chronische Schmerzen, Migräne, Tinnitus sowie eine schwerwiegende psychische Störung führten dazu, dass er nicht mehr in der Lage war, regelmäßig zu arbeiten.
Bereits am 23.12.2016 stellte der Kläger einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente. Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) lehnte den Antrag mit der Begründung ab, der Kläger könne noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein (§ 43 Abs. 1 SGB VI). Nach einem erfolglosen Widerspruch erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Ulm.
Im erstinstanzlichen Verfahren wurde die Klage abgewiesen, ein damaliges Gutachten bestätigte eine Arbeitsfähigkeit von über sechs Stunden täglich. Doch der Kläger gab nicht auf: Er legte Berufung beim LSG Baden-Württemberg ein.
Berufungsverfahren und neue medizinische Bewertung
Im Berufungsverfahren holte das LSG ein neues unabhängiges medizinisches Gutachten ein. Der Sachverständige diagnostizierte schwerwiegende psychische Erkrankungen (insbesondere Schizophrenia simplex) sowie eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Das Gutachten gelangte im Gegensatz zur Rentenversicherung zu einem klaren Ergebnis:
- Der Kläger ist seit Dezember 2019 dauerhaft nicht mehr in der Lage, zumindest drei Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu arbeiten.
- Eine wesentliche Besserung oder Rehabilitation im Sinne einer Rückkehr in die Erwerbstätigkeit ist medizinisch unwahrscheinlich (§ 102 Abs. 2 SGB VI).
Das LSG stellte deshalb den Eintritt der vollen Erwerbsminderung auf den Dezember 2019 fest (§ 99 Abs. 1 SGB VI).
Die wichtigsten Urteilsgründe im Überblick
1. Medizinische Gutachten sind maßgeblich und können Vorentscheidungen revidieren:
Das Landessozialgericht verließ sich nicht allein auf frühere Einschätzungen der DRV, sondern holte ein aktuelles, unabhängiges Gutachten ein. Dieses bewies die gravierende Einschränkung der Erwerbsfähigkeit.
2. Maßgeblich ist die tatsächliche Leistungsfähigkeit – auch bei psychischen Erkrankungen:
Das Urteil betont explizit, dass nicht allein körperliche Einschränkungen zählen, sondern dass gerade psychiatrische Störungsbilder wie Schizophrenie oder chronische Schmerzsyndrome zu vollständiger Erwerbsminderung führen können. Entscheidend ist, ob der Versicherte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter üblichen Bedingungen weniger als drei Stunden täglich arbeiten kann (§ 43 Abs. 2 SGB VI).
3. Unbefristete Rente, wenn keine Besserung zu erwarten ist:
Eine Erwerbsminderungsrente wird grundsätzlich befristet gewährt. Erst wenn eine wesentliche Besserung medizinisch unwahrscheinlich erscheint, kann sie auf Dauer, also unbefristet, zugesprochen werden. Genau diese Voraussetzung war hier erfüllt und wurde vom Gericht eindeutig festgestellt (§ 102 Abs. 2 SGB VI).
4. Rückwirkende Rentenzahlung und Vorteile durch neue Zurechnungszeiten:
Dem Kläger wurde die volle Erwerbsminderungsrente rückwirkend ab 01.01.2020 zugesprochen. Dabei profitieren Betroffene inzwischen von verbesserten Zurechnungszeiten (§ 253a SGB VI), was zu einer höheren Rentenleistung führt, als bei älteren Fällen vor dem Jahr 2019.
Bedeutung für die Praxis und Versicherte
Das Urteil L 4 R 3332/21 ist richtungsweisend für alle Versicherten mit gravierenden psychischen oder chronischen Erkrankungen:
- Psychische Erkrankungen werden bei der Rentenbewertung deutlicher berücksichtigt.
- Aktuelle medizinische Befunde können fehlerhafte oder veraltete Einordnungen der Rentenversicherung korrigieren.
- Eine unbefristete Erwerbsminderungsrente ist möglich und das Recht auf eine Überprüfung im Berufungsverfahren besteht.
Für Betroffene ist eine ausführliche und aktuelle medizinische Dokumentation der Schlüssel zum Rentenerfolg. Das Urteil macht deutlich: Es lohnt sich, gegen ablehnende Bescheide rechtlich vorzugehen und aktuelle Gutachten einzubringen. Im Zweifelsfall empfiehlt sich die Beratung durch Sozialverbände oder erfahrene Rentenberater.
Zusammenfassung: Urteil – dann besteht Anspruch auf volle EM-Rente!
Das LSG-Urteil zeigt: Wer durch gesundheitliche Einschränkungen dauerhaft weniger als drei Stunden am Tag arbeiten kann, hat Anspruch auf die volle Erwerbsminderungsrente – unabhängig vom Ursprung der Erkrankung. Medizinische Gutachten sind entscheidend, eine Berufung gegen ein abweisendes Urteil oder zunächst eine Klage gegen eine abweisende Verwaltungsentscheidung ist oft erfolgreich.
Das Urteil L 4 R 3332/21 stärkt die Rechte kranker Menschen und vereinfacht den Zugang zu existenzsichernden Sozialleistungen.