Menschen mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr können das Merkzeichen G erhalten – und das auch bei seltenen oder bisher wenig beachteten Erkrankungen. Neuere gerichtliche Entscheidungen zeigen: Nicht die Diagnose, sondern das konkrete Ausmaß der Einschränkung ist entscheidend. Aktuelle Urteile wie jene des Sozialgerichts Lüneburg (Az.: S 6 SB 26/22) und des Sozialgerichts Speyer (Az.: S 12 SB 318/23) bringen Klarheit für Betroffene und stellen Anforderungen an die Behördenpraxis.
Bedeutung und rechtliche Grundlagen des Merkzeichens G
Das Merkzeichen G wird im Schwerbehindertenausweis eingetragen, wenn Betroffene im Straßenverkehr erheblich in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt sind. Gesetzlich geregelt ist dies in § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und der Versorgungsmedizin-Verordnung.
Der Anspruch setzt voraus, dass jemand aufgrund seines Gesundheitszustandes Strecken von etwa 2 Kilometern nicht mehr zumutbar zu Fuß in maximal 30 Minuten zurücklegen kann. Entscheidend ist die dauerhafte, das heißt mindestens sechs Monate bestehende Einschränkung im alltäglichen Leben.
Traditionell erfüllen vor allem Menschen mit orthopädischen Problemen wie Lähmungen, versteiften Gelenken oder fortgeschrittener Arthrose diese Anforderungen.
Typische und untypische Fallkonstellationen
Viele Behörden tun sich schwer, untypische Erkrankungen anzuerkennen. Doch: Auch Herzleiden, Stoffwechselstörungen, neurologische oder psychische Erkrankungen – oder mehrere Leiden in Kombination – können zu einer erheblichen Mobilitätseinschränkung führen.
Die Gesamtwirkung zählt: SG Lüneburg, Az.: S 6 SB 26/22
Ein Meilenstein: Das Sozialgericht Lüneburg hat im Urteil vom 11.05.2023 (Az.: S 6 SB 26/22) geurteilt, dass nicht nur Einzelkrankheiten betrachtet werden dürfen – vielmehr muss die Gesamtwirkung aller Einschränkungen beurteilt werden. Im konkreten Fall litt der Kläger an Nierenschwäche, Herzinsuffizienz, Polyneuropathie und Kniearthrose. Die Kombination führte dazu, dass er keine 2 km mehr schaffen konnte. Das Gericht gab ihm recht: Die zusammengenommene Auswirkung aller Gesundheitsstörungen entscheidet.
Auch Post-Covid-Syndrom und psychische Leiden: SG Speyer, Az.: S 12 SB 318/23
Mit steigender Häufigkeit werden atypische Krankheitsbilder wie das Post-Covid-Syndrom zum Zankapfel juristischer Auseinandersetzungen. Das Sozialgericht Speyer (Urteil vom 03.06.2025, Az.: S 12 SB 318/23) urteilte zugunsten eines Klägers, der an chronischer Erschöpfung und Konzentrationsstörungen nach einer Covid-Infektion litt: Entscheidend war nicht die Krankheit selbst, sondern die nachweisbare, anhaltende Alltagseinschränkung, die die Bedingungen für das Merkzeichen G erfüllte.
In beiden Fällen forderten die Gerichte eine umfassende Prüfung des Einzelfalls und die Berücksichtigung aller vorliegenden Leiden – auch solcher ohne klassische Symptome einer Gehbehinderung.
Medizinische Nachweise und Antragsverfahren
Zur erfolgreichen Beantragung des Merkzeichens G sind präzise, objektive medizinische Unterlagen entscheidend:
- Detaillierte Facharztbefunde und gutachtliche Stellungnahmen zur Alltagseinschränkung
- Ergebnisberichte von Testverfahren (z. B. 2km-Gehtest)
- Ggf. Diagnosen zu psychischen oder neurologischen Störungen, wenn diese die Mobilität mindern
Subjektive Befindlichkeiten reichen nicht aus; ausschlaggebend ist die objektive Nachweisbarkeit und nachvollziehbare Begründung.
Was tun bei Ablehnung?
Lehnt das Versorgungsamt den Antrag ab, können Betroffene innerhalb eines Monats Widerspruch einlegen. Oft führen ergänzte oder aktualisierte Gutachten zum Erfolg. Spätestens im Klageverfahren vor dem Sozialgericht zählt das Gesamtbild aller Beeinträchtigungen und deren Auswirkung auf die Mobilität. Die genannten Urteile belegen, dass sich ein solches Verfahren lohnen kann.
Nachteilsausgleiche mit dem Merkzeichen G
Wer das Merkzeichen G erhält, profitiert von verschiedenen Nachteilsausgleichen:
- Kostenlose oder vergünstigte Nutzung von Bussen und Bahnen
- Steuerermäßigungen und Behindertenpauschbeträge
- Parkerleichterungen im Rahmen der Ausnahmegenehmigung
- Vorteile bei behördlichen und gesundheitlichen Dienstleistungen
All dies trägt dazu bei, gesellschaftliche Teilhabe auch bei Mobilitätsproblemen zu sichern.
FAQ: Häufig gestellte Fragen
Für wen gilt das Merkzeichen G?
Für Menschen, deren Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist – unabhängig von der Ursache, sofern diese objektiv belegt ist. Auch ungewöhnliche, seltene oder zusammengesetzte Krankheitsbilder können anerkannt werden.
Muss die Einschränkung dauerhaft sein?
Ja, die Behinderung muss mindestens sechs Monate bestehen.
Was zählt bei der Begutachtung?
Ausschlaggebend sind objektive medizinische Befunde und die praktische Alltagsauswirkung – nicht die Diagnose oder die subjektive Krankheitswahrnehmung.
Hilft ein Gerichtsurteil aus einem anderen Bundesland mir?
Gerichtsurteile sind immer Einzelfallentscheidungen, können aber als Orientierungshilfe und Argumentationshilfe genutzt werden.
Aktuelle Rechtsprechung bringt Bewegung in die Verwaltungspraxis
Die Urteile des SG Lüneburg (Az.: S 6 SB 26/22) und des SG Speyer (Az.: S 12 SB 318/23) stärken nicht nur Betroffene klassischer Gehbehinderungen. Sie machen deutlich: Auch neue und weniger bekannte Krankheitsbilder müssen fair berücksichtigt werden – immer dann, wenn die praktische Gehfähigkeit im Alltag wesentlich beeinträchtigt ist. Körperliche und seelische Ursachen können gleichwertig sein, entscheidend bleibt die nachvollziehbare, gutachterlich belegte Einschränkung der Mobilität.
Fazit: Individuelle Gerechtigkeit statt Schubladendenken
Wer durch eine seltene Krankheit, eine Kombination mehrerer Leiden oder ein „neues“ Syndrom wie Long Covid dauerhaft im Alltag behindert ist, kann und sollte das Merkzeichen G beantragen. Die Rechtsprechung zeigt: Der Einzelfall zählt, und die Gerichte nehmen sich immer seltener mit pauschalen Ablehnungen zufrieden.
Betroffene sollten sich nicht entmutigen lassen, frühzeitig Spezialisten einbeziehen und notfalls ihr Recht vor Gericht einfordern – mit guten Chancen auf Erfolg.
Dieser Artikel wurde sorgfältig und unabhängig für das Nachrichtenmagazin Bürger & Geld, das Portal des Vereins Für soziales Leben e. V., recherchiert und verfasst. Die genannten Gerichtsentscheide sind belegt durch SG Lüneburg, Az.: S 6 SB 26/22 sowie SG Speyer, Az.: S 12 SB 318/23. Alle Angaben ohne Gewähr auf Vollständigkeit.