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Landessozialgericht Eilentscheidung: Pflegegeld kann auf Bürgergeld angerechnet werden!

Mit zwei Beschlüssen vom 01.12.2025 (L 6 AS 1191/25 B ER und L 6 AS 1192/25 B) hat das Landessozialgericht NRW im Eilverfahren entschieden : Pflegegeld, das ein Bürgergeld‑Haushalt für die Pflege eines Angehörigen erhält, kann im Eilverfahren als „bereites Mittel“ berücksichtigt werden – und damit dazu führen, dass vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts abgelehnt werden. Das Pflegegeld wird also auf das Bürgergeld angerechnet! Das Gericht knüpft dabei an seine frühere Rechtsprechung an und wertet Pflegegeld nicht nur als geschütztes Schonvermögen, sondern als tatsächlich verfügbare Ressource bei der Prüfung des Anordnungsgrundes im Eilverfahren vor dem Sozialgericht. Einzelheiten zu den wegweisenden Gerichtsentscheidungen hier auf Bürger & Geld, dem Nachrichtenmagazin des Vereins Für soziales Leben e.V.!

Hintergrund: Worum ging es in den Verfahren?

Die Verfahren betreffen einen Haushalt im SGB‑II‑Bezug (Bürgergeld bzw. Grundsicherung für Arbeitsuchende), in dem eine Person Pflegegeld für einen pflegebedürftigen Angehörigen erhält. Die Antragsteller wollten im einstweiligen Rechtsschutz höhere vorläufige Leistungen bzw. eine Sicherung der Unterkunftskosten erreichen und argumentierten, das Pflegegeld dürfe nicht zu ihrem Nachteil berücksichtigt werden.

Das LSG NRW ordnet die Sache im Sachgebiet „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ ein und verweist auf frühere Entscheidungen des eigenen Senats zur Rolle von Pflegegeld im Existenzsicherungsrecht. Besonders hervorgehoben wird die ältere Senatsrechtsprechung aus 2022 (L 6 AS 150/22 B ER), die schon damals die Berücksichtigung von sogenannten „bereiten Mitteln“ im Eilverfahren betonte.

Zentrale Kernaussage: Pflegegeld als bereites Mittel

Kern der aktuellen Beschlüsse ist die Frage, ob Pflegegeld, das formal als zweckbestimmte Leistung und Schonvermögen gilt, im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes dennoch als verfügbarer Finanzpuffer gewertet werden darf. Das LSG bejaht dies ausdrücklich: Es sieht keinen Grund, Pflegegeld anders zu behandeln als andere geschützte, aber tatsächlich vorhandene Mittel, wenn es nur um die vorläufige Sicherung bis zur Hauptsache geht.

Damit folgt der Senat seiner Linie aus früheren Beschlüssen, nach der bei der Prüfung des Anordnungsgrundes (Eilbedürftigkeit) auch Mittel berücksichtigt werden können, die bei der eigentlichen Bedürftigkeitsprüfung im Hauptsacheverfahren als Schonvermögen außen vor bleiben müssen. Praktisch bedeutet das: Gibt es im Haushalt Pflegegeld in nennenswerter Höhe, kann das Gericht annehmen, dass akute Notlagen vorübergehend daraus gedeckt werden können – und den Eilantrag auf zusätzliche Bürgergeldleistungen ablehnen.

Pflegegeld: Zweckbestimmung versus Einsatz im Notfall

In der sozialrechtlichen Literatur und Rechtsprechung war lange umstritten, ob Pflegegeld strikt nur zur Deckung der behinderungsbedingten Mehrbedarfe der pflegebedürftigen Person verwendet werden darf. Eine ältere Entscheidung des LSG NRW (L 7 AS 733/18 B ER) hatte argumentiert, der Einsatz des Pflegegeldes für den allgemeinen Lebensunterhalt anderer Haushaltsmitglieder sei unzumutbar.

Der 6. Senat widerspricht dieser strikten Sicht nun deutlich: Er stellt auf den Wortlaut des § 37 SGB XI ab, nach dem Pflegegeld zwar der Sicherstellung der Pflege dienen soll, aber nicht ausschließt, dass die finanziellen Mittel im Einzelfall vorübergehend zur Deckung existenzieller Lücken eingesetzt werden können. Im Ergebnis bleibt Pflegegeld im SGB‑II‑System zwar zweckbestimmt, wird aber im Eilverfahren als realer Liquiditätspuffer gewertet, der die Annahme einer gegenwärtigen „Notlage“ relativieren kann.

Auswirkungen auf den Anordnungsgrund im Eilverfahren

Rechtlich geht es in den Beschlüssen vor allem um den sogenannten Anordnungsgrund, also die Frage, ob eine unzumutbare, gegenwärtige Notlage besteht, die sofortige gerichtliche Hilfe erfordert. Das LSG betont, dass in dieser Prüfung auch Vermögens- und Einkommensteile berücksichtigt werden dürfen, die materiellrechtlich (bei der eigentlichen Leistungsberechnung) als geschütztes Schonvermögen gelten.

Wenn im Haushalt ein nennenswertes Pflegegeld zur Verfügung steht, sieht das Gericht deshalb keinen zwingenden Anlass, die Jobcenter zu vorläufigen Zahlungen zu verpflichten, solange nicht dargelegt ist, warum dieses Geld trotz seiner Zweckbestimmung im akuten Notfall nicht zur Sicherung von Miete oder Lebensunterhalt genutzt werden kann. Damit verschiebt sich die Darlegungslast auf die Antragsteller, die genauer begründen müssen, warum das Pflegegeld im konkreten Einzelfall tatsächlich nicht verfügbar ist.

Bedeutung für Bürgergeld-Empfänger mit Pflegegeld

Für Bürgergeld‑Haushalte, in denen Angehörige Pflegegeld erhalten, haben die Beschlüsse eine spürbare Signalwirkung. Zum einen steigt das Risiko, dass Eilanträge auf höhere Leistungen oder Mietübernahme mit dem Hinweis zurückgewiesen werden, das Pflegegeld sei als „bereites Mittel“ einsetzbar und schließe eine akute Notlage aus.

Zum anderen verschärft sich damit die ohnehin angespannte Situation pflegender Familien, die Pflegegeld bisher als zweckgebundenen Ausgleich für hohen Pflegeeinsatz verstanden haben. Sie müssen künftig damit rechnen, dass Sozialgerichte dieses Geld zumindest kurzfristig als Reserve für Miete oder Lebensunterhalt ansehen und Eilverfahren entsprechend restriktiver entscheiden.

Einordnung in die bisherige Rechtsprechung

Die Beschlüsse knüpfen an eine Linie des 6. Senats an, nach der „bereite Mittel“ im Eilrechtsschutz umfassend einzubeziehen sind, auch wenn sie nach § 12 SGB II materiell als Schonvermögen geschützt sind. Verweise auf frühere Entscheidungen (u. a. L 6 AS 150/22 B ER sowie L 7 AS 640/21 B ER) zeigen, dass das Gericht bereits in der Vergangenheit Vermögen und zweckbestimmte Leistungen in die Eilbedürftigkeitsprüfung hineingenommen hat.

Neu und praxisrelevant ist, dass dies nun ausdrücklich auch für Pflegegeld geschieht und damit eine klare Absage an Stimmen erteilt wird, die Pflegegeld vollständig aus der Notlagenbetrachtung herausnehmen wollten. In der sozialrechtlichen Diskussion dürften die Beschlüsse deshalb als „Verschärfung“ wahrgenommen werden, weil sie die Reichweite des Schonvermögens im einstweiligen Rechtsschutz weiter begrenzen.

Was Betroffene und Berater jetzt beachten sollten

Für Betroffene und Beratungsstellen wird es noch wichtiger, im Eilverfahren sehr konkret darzulegen, wie das Pflegegeld tatsächlich verwendet wird und warum ein Einsatz für den allgemeinen Lebensunterhalt im Einzelfall unzumutbar ist. Dazu gehören nachvollziehbare Aufstellungen zu pflegebedingten Mehrausgaben, Verträgen mit Pflegepersonen und beachtlichen Risiken, wenn Pflegegeld anderweitig eingesetzt wird.

Zugleich sollten Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz sorgfältig begründet werden, statt pauschal auf Hilfebedürftigkeit zu verweisen – insbesondere wenn bekannt ist, dass Pflegegeld oder anderes Schonvermögen vorhanden ist. Nur so lässt sich die vom LSG NRW betonte „Bereitschaft“ dieser Mittel im Einzelfall in Zweifel ziehen und eine Chance auf erfolgreiche Eilverfahren wahren.

Redakteure

  • ik

    Sozialrechtsexperte und Redakteur

    Ingo Kosick ist ein renommierter Experte im Bereich des Sozialrechts in Deutschland. Er engagiert sich seit über 30 Jahren in diesem Feld und hat sich als führende Autorität etabliert. Als Vorsitzender des Vereins Für soziales Leben e.V., der 2005 in Lüdinghausen gegründet wurde, setzt er sich für die Unterstützung von Menschen ein, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Der Verein bietet über das Internet Informationen, Beratung und Unterstützung für sozial benachteiligte Menschen an.

    Ingo Kosick ist zudem ein zentraler Autor und Redakteur auf der Plattform buerger-geld.org, die sich auf Themen wie Bürgergeld, Sozialleistungen, Rente und Kindergrundsicherung spezialisiert hat. Seine Artikel bieten fundierte Analysen und rechtlich aufgearbeitete Informationen, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützen sollen.

    Durch seine langjährige Erfahrung und sein Engagement hat Ingo Kosick maßgeblich dazu beigetragen, dass sozial benachteiligte Menschen in Deutschland besser informiert und unterstützt werden können.

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  • Peter Kosick
    Experte:

    Jurist und Redakteur

    Peter Kosick hat an der Universität Münster Rechtswissenschaften studiert und beide juristische Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen mit Erfolg abgelegt. Er arbeitet als freiberuflicher Jurist, ist Autor verschiedener Publikationen und hält Vorträge im Bereich Arbeits- und Sozialrecht. Seit mehr als 30 Jahren engagiert er sich im sozialen Bereich und ist seit der Gründung des Vereins "Für soziales Leben e.V." dort Mitglied. Peter Kosick arbeitet in der Online Redaktion des Vereins und ist der CvD. Seinen Artikeln sieht man an, dass sie sich auf ein fundiertes juristisches Fachwissen gründen.

    Peter hat ebenfalls ein Herz für die Natur, ist gern "draußen" und setzt sich für den Schutz der Umwelt ein.

    Seine Arbeit im Redaktionsteam von buerger-geld.org gibt ihm das Gefühl,  etwas Gutes für das Gemeinwohl zu tun.

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