Maßstäbe: Existenzminimum, SDGs und Vergleich mit der Armutsgrenze
Die Untersuchung legt als zentralen Maßstab das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zugrunde, wie es 2010 durch das Bundesverfassungsgericht klargestellt wurde. Dies umfasst nicht nur reine Existenzsicherung, sondern auch volle gesellschaftliche Teilhabe. Ergänzt wird dieser Anspruch durch die Ziele der UN-2030-Agenda, insbesondere zum Abbau von Armut (SDG 1) und sozialer Ungleichheit (SDG 10). Ein Referenzwert ist die Armutsgrenze: Wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung hat, gilt als arm.
Entwicklung der Bürgergeld-Leistungen: Nominale Anpassung, reale Stagnation
Der Regelbedarf für alleinstehende Erwachsene beträgt seit Anfang 2024 exakt 563 Euro pro Monat. Hinzu kommen Wohn- und Heizkosten, sofern sie als angemessen anerkannt werden. Die Entwicklung der Leistungen zeigt: Nominell sind die Bürgergeld – Leistungen über die letzten 15 Jahre gestiegen – von einem Gesamtbedarf (Regelbedarf plus Unterkunft/Heizung) von 644 Euro 2010 auf rund 907 Euro 2023. Allerdings fließt ein Großteil in gestiegene Wohnkosten, die für die Betroffenen keine wirkliche Verbesserung bedeuten.
Kaufkraftbereinigt bleibt der Wert aber seit den 1990ern auf gleichem Niveau. Während die Durchschnittseinkommen privater Haushalte real um etwa 30 Prozent stiegen, leben Bürgergeldbeziehende heute auf demselben Stand wie vor dreißig Jahren und sind vom gesellschaftlichen Wohlstandsgewinn komplett abgekoppelt.
Bürgergeld-Reform und Kaufkraftverluste: Nur teilweise Kompensation
Die Reformen der Jahre 2023 und 2024, mit Erhöhungen um jeweils über 10 Prozent, galten als Entlastung angesichts explodierender Energie- und Lebensmittelpreise. Im Ergebnis kompensierten diese Erhöhungen jedoch lediglich die massiven Kaufkraftverluste seit 2021. Für einen Singlehaushalt ergeben sich Kaufkraftverluste von bis zu 1.012 Euro allein in diesem Zeitraum. Trotz aller Anpassungen konnten also die Preissteigerungen nicht voll ausgeglichen werden – die Lebenslage der Betroffenen bleibt prekär.
Durch die gesetzlich festgelegten Nullrunden 2025 und 2026 wird sich die soziale Situation absehbar weiter verschärfen, weil erneut keine Anpassung an die Preisentwicklung erfolgt und die reale Versorgung mit grundlegenden Gütern sinkt.
Armutslücke: Bürgergeld unterhalb der Armutsschwelle
Der Abstand zwischen den Leistungen der Grundsicherung und der allgemeinen Armutsgrenze ist das zentrale Problem: 2023 lag der durchschnittliche Bürgergeldbedarf bei 907 Euro monatlich, die Armutsschwelle bei 1.381 Euro – eine Lücke von 474 Euro. Wer ausschließlich vom Bürgergeld lebt, bleibt damit deutlich unterhalb der gesellschaftlich anerkannten Armutsgrenze und kann am Leben in der Mitte der Gesellschaft nicht teilnehmen.
Die Studie belegt: Die Armutslücke ist seit 2010 kontinuierlich größer geworden und droht mit den kommenden Nullrunden weiter zu steigen. Selbst nach den kräftigen Erhöhungen der letzten Jahre blieb die Lücke praktisch unverändert – eine effektive Armutsbekämpfung findet nicht statt.
Materielle Entbehrung und Deprivation: Alltag unter Bürgergeld
Die Paritätische Studie liefert erstmals aktuelle Zahlen zur konkreten Lebenslage der Bürgergeldbezieher*innen. Der EU-Indikator „materielle und soziale Deprivation“ umfasst 13 Einzelelemente wie bezahlte Wohnung, Mahlzeiten, Ersatz von Möbeln und soziale Aktivitäten. Die Sonderauswertung des Statistischen Bundesamts zeigt: 2024 waren rund 50 Prozent aller Bürgergeld-Haushalte von materieller und sozialer Entbehrung betroffen, über 30 Prozent sogar von erheblicher Entbehrung (Verzicht auf sieben oder mehr Grundbedarfe).
Zum Vergleich: In Haushalten ohne Bürgergeldbezug sind nur 8,9 Prozent materiell depriviert, und 4,6 Prozent erheblich depriviert. Die Zahlen dokumentieren eine massive soziale Spaltung.
Einzelaspekte der Deprivation (Ergebnisse 2024):
- 86,6% der Bürgergeldbezieher können keine unerwarteten Ausgaben (z. B. Reparatur) stemmen.
- 55,4% können abgenutzte Möbel nicht ersetzen.
- 32,1% können nicht mit Freunden/Familie gemeinsam essen oder trinken.
- 19,3% haben Zahlungsrückstände und können Rechnungen (Miete, Strom) nicht fristgerecht begleichen.
- Über 30% müssen bei der Ernährung sparen, können sich keine vollwertigen Mahlzeiten leisten.
- 16,7% können ihre Wohnung nicht ausreichend warm halten.
Auch andere regelmäßig abgefragte Entbehrungen – wie Freizeitaktivitäten, Internetanschluss, Ersatz von Kleidung – sind im Bürgergeldbezug sehr viel häufiger als im gesellschaftlichen Durchschnitt. Besonders bitter: Die Lebenslage bessert sich kaum nach den letzten Reformen, sondern bleibt auf extrem hohem Niveau der Deprivation.
Entwicklung über die letzten Jahre: Multiplikative Krisen und Trendwende
Historisch betrachtet, zeigte sich vor den aktuellen Krisen (Corona, Inflation, Energiepreise) ein positiver Trend: Materielle Entbehrung sank in SGB-II-Haushalten spürbar (z. B. PASS-Studie). Mit Einsetzen der multiplen Krisen ab 2020 und den massiven Preissteigerungen drehte sich die Entwicklung radikal – nicht nur materielle Entbehrung, sondern auch erhebliche Deprivation stiegen an und stabilisierten sich erst durch die Erhöhungen wieder auf hohem Niveau. Eine echte Verbesserung ist jedoch ausgeblieben.
Politische Konsequenz: Studie fordert strukturelle und dauerhafte Erhöhung
Die Autoren und der Paritätische Gesamtverband fordern deshalb eine strukturelle, dauerhafte und deutliche Erhöhung der Regelsätze sowie eine Anpassung der Grundsicherung an die gesellschaftliche, wirtschaftliche und rechtliche Realität. Die existierende Form des Bürgergelds wird als unzureichend bewertet – sie sichert zwar das physische Überleben, verfehlt aber den Anspruch auf soziale Teilhabe und Würde und widerspricht damit klar den Zielen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union.
Fazit: Bürgergeld 2025 im Realitätscheck
Die Paritätische Expertise zeigt glasklar: Die soziale Schere geht weiter auseinander. Die Grundsicherung in ihrer aktuellen Form schützt nicht vor Armut und materieller Entbehrung – Hunderttausende Menschen erleben tagtäglich, dass ihnen elementare Bedürfnisse und gesellschaftliche Teilhabe verwehrt werden. Die Politik hat die Pflicht, endlich angemessen zu reagieren und eine Grundsicherung zu garantieren, die ihren Namen verdient.
Quelle
Der Artikel basiert auf den vollständigen Daten und Analysen der Paritätischen Studie „Bürgergeld im Realitätstest“, Oktober 2025. der-paritaetische.de