Bürgergeld, Rente, Pflegeversicherung noch finanzierbar?
Mit markigen Worten stellte CDU-Chef Friedrich Merz jüngst infrage, ob Deutschland sich den Sozialstaat mit Bürgergeld und Rente noch leisten könne: „Sozialstaat nicht mehr finanzierbar“. Eine Aussage, die auf den ersten Blick dramatisch klingt – aber bei genauer Betrachtung den Fakten widerspricht. Sozialverbände wie der VdK oder der Verein Für soziales Leben e.V. sowie zahlreiche Sozial- und Wirtschaftsexperten halten dagegen: Der Sozialstaat ist finanzierbar, wenn er gerecht organisiert und solidarisch finanziert wird. Und genau hier liegt das Problem: Jahrzehntelang wurden Kosten verschoben, Finanzierungslücken bewusst gelassen und ganze Berufsgruppen aus der solidarischen Pflicht entlassen.
Ist der Sozialstaat wirklich unbezahlbar?
Die nackten Zahlen sprechen eine andere Sprache. Zwar steigen die Sozialausgaben absolut, aber die entscheidende Größe ist ihr Anteil an der Wirtschaftsleistung (Sozialleistungsquote am BIP). Diese liegt seit über 30 Jahren stabil bei rund 27 Prozent. Mit anderen Worten: Der Sozialstaat wächst proportional mit der Wirtschaft – und ist damit nicht weniger, sondern genauso finanzierbar wie früher.
Woher kommen die vermeintlichen „Löcher“ in den Kassen?
Sozialverbände weisen seit Jahren darauf hin: Viele Milliarden fehlen, weil der Bund gesetzliche Sozialversicherungen für gesamtgesellschaftliche Aufgaben zweckentfremdet. Eigentlich müssten diese Kosten aus dem Bundeshaushalt – also aus Steuern – gezahlt werden. Stattdessen landen sie auf der Rechnung der Beitragszahler.
Beispiele:
- Rentenversicherung: Sie zahlte 2023 rund 108,2 Milliarden Euro für gesamtgesellschaftliche Aufgaben, also Dinge, die nichts mit der direkten Rente von Versicherten zu tun haben (z. B. Kindererziehungszeiten, Renten für Spätaussiedler). Der Bund erstattete jedoch nur 84,3 Milliarden Euro. Die Differenz von knapp 24 Milliarden Euro blieb an den Rentenbeitragszahlern hängen.
- Pflegeversicherung: Auch sie wurde belastet. Während der Corona-Pandemie wurden aus der Kasse Mittel für gesamtgesellschaftliche Aufgaben entnommen. Bis heute schuldet der Bund ihr laut VdK rund 5,2 Milliarden Euro.
Dieses Vorgehen schwächt die Sozialversicherungen künstlich – und führt anschließend zu politischen Rufen, der Sozialstaat sei „teuer“ oder „nicht finanzierbar“.
Wer soll alles einzahlen – und wer nicht?
Ein weiteres Kernproblem: Nicht alle Erwerbstätigen zahlen solidarisch ein.
- Abgeordnete,
- Beamte
- viele Selbstständige
sind nach wie vor in Parallel- oder Sonderversorgungssystemen abgesichert. Während normale Angestellte Einkommensteile in die Rente, Gesundheit und Pflege tragen, genießen diese Gruppen Sonderrechte mit oft deutlich höheren Leistungen – insbesondere im Beamtenpensionssystem.
Sozialverbände fordern daher: Eine Bürgerversicherung für alle.
- In der Rentenversicherung → damit die Finanzierung breiter aufgestellt wird.
- In der Kranken- und Pflegeversicherung → um das Zwei-Klassen-System endlich zu überwinden.
Würden alle zahlen, wäre der Sozialstaat langfristig stabiler, gerechter verteilt und würde auf viel stärkeren finanziellen Füßen stehen.
Fördert der Sozialstaat Abhängigkeit – oder Wohlstand?
Merz und andere Kritiker zeichnen das Bild eines überzogenen Umverteilungsstaats, der die Gesellschaft lähme. Tatsächlich aber gilt:
- Sozialleistungen sichern Kaufkraft und Nachfrage – wichtig für Millionen Arbeitsplätze.
- Gesundheit und Pflege verhindern hohe Folgekosten durch Krankheitsausfälle und familiäre Überlastung.
- Altersrenten geben finanziellen Rückhalt, der Konsum und soziale Stabilität fördert.
Wer Sozialausgaben reduziert, riskiert nicht weniger, sondern mehr ökonomische Probleme: Altersarmut, wachsende Ungleichheit und instabile Binnenmärkte.
Wird die Erzählung der „Unfinanzierbarkeit“ politisch genutzt?
Die Vokabel der „Unfinanzierbarkeit“ dient politisch oft als Hebel:
- um Sozialleistungen zu kürzen oder zu deckeln,
- um Raum für andere Ausgaben (z. B. Verteidigung) zu schaffen,
- um Steuersenkungen für Besserverdienende zu rechtfertigen.
Dabei wird bewusst übersehen, dass fehlende Milliarden nicht das Ergebnis „zu hoher Renten“ oder „zu teurer Pflege“ sind – sondern jahrelanger politischer Entscheidungen, die Finanzierungslasten fehlerhaft auf Beitragszahler verschoben haben.
Wie könnte der Sozialstaat wirklich stabil finanziert werden?
Sozialverbände, wie VdK oder Für soziales Leben e.V. bringen klare Vorschläge auf den Tisch:
- Gesellschaftliche Aufgaben über Steuern statt Beiträge finanzieren.
→ Dann zahlen auch Spitzenverdiener und Kapitaleigentümer fair mit. - Bürgerversicherung in Rente, Pflege und Gesundheit einführen.
→ Alle Erwerbstätigen, ob Beamte, Selbstständige oder Politiker, leisten Beiträge. - Parallelsysteme überprüfen.
→ Beamtenpensionen liegen weit über der gesetzlichen Rente und schaffen Ungleichheit. - Transparenz schaffen.
→ Klare Trennung zwischen Versicherungsleistungen und staatlich gewollten Zusatzaufgaben.
Damit würde der Sozialstaat nicht nur finanzierbar, sondern sogar gestärkt – gleichzeitig gerechter und besser verteilt.
Fazit: Sozialstaat stärken statt kleinreden
Friedrich Merz liegt mit seiner Behauptung falsch. Deutschland kann sich den Sozialstaat leisten – und wird ohne ihn nicht funktionieren. Der VdK und andere Sozialverbände bringen es auf den Punkt: Die wahre Baustelle ist nicht die Unfinanzierbarkeit, sondern eine ungerechte Finanzierung.
- Milliarden, die eigentlich aus Steuern fließen müssten, landen auf dem Rücken der Beitragszahler.
- Bestimmte Bevölkerungsgruppen zahlen gar nicht oder viel zu wenig ein.
- Gleichzeitig profitieren gerade Unternehmen und Besserverdienende von einem funktionierenden Sozialstaat, den sie häufiger als „Kostenfaktor“ darstellen.
Der Sozialstaat ist also nicht am Ende – sondern er braucht Reform, Fairness und Solidarität. Genau das hätte Deutschland:
- mehr finanzielle Nachhaltigkeit,
- weniger soziale Spaltung,
- und eine klare Absage an den Mythos der „Unfinanzierbarkeit“.