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Jobcenter-Aufrechnung vor Gericht: BSG-Urteil könnte tausende Bürgergeld-Bescheide kippen

Dürfen Jobcenter eine Rückzahlungsforderung sofort im selben Bescheid mit der Erstattungsfestsetzung aufrechnen – oder braucht es dafür erst eine bestandskräftige Forderung? Diese bislang ungeklärte Kernfrage beschäftigt nun das Bundessozialgericht (BSG). Drei Verfahren stehen unmittelbar vor einer Grundsatzentscheidung. Der folgende Beitrag stammt von Bürger & Geld, dem Nachrichtenmagazin des Vereins Für soziales Leben e. V., das fundiert über Sozialrecht und aktuelle Gerichtsentscheidungen informiert.

Worum geht es in den anhängigen Verfahren beim BSG?

Im Zentrum steht die Frage, ob ein Jobcenter nach § 43 SGB II unmittelbar im gleichen Verwaltungsakt sowohl die Rückforderung von Leistungen festsetzen als auch gleichzeitig deren Aufrechnung erklären darf.

Bisherige Praxis der Jobcenter:

  • In vielen Fällen wurden Erstattungsforderung und Aufrechnung im selben Bescheid vorgenommen.
  • Damit beginnt sofort eine monatliche Kürzung des Bürgergeldes oder anderer SGB-II-Leistungen.

Kritikpunkt der Kläger:

  • Die Betroffenen können so keine aufschiebende Wirkung einer Klage gegen den Erstattungsbescheid erreichen.
  • Faktisch wird schon von anfänglicher Rechtsunsicherheit an das verfügbare Einkommen gekürzt.

Genau diese Praxis überprüft das Bundessozialgericht nun in drei Revisionsverfahren.

Die drei Revisionsverfahren vor dem Bundessozialgericht

Revision beim BSG erfahren aus Celle – direkte Aufrechnung im Fokus

  • LSG Celle: Urteil vom 04.04.2025 – L 7 AS 649/22 (n. veröff.), Revision beim BSG: B 7 AS 13/25 R
    • Streitpunkt: Zulässigkeit der Aufrechnung ohne Bestandskraft des Erstattungsbescheids.

Verfahren aus Niedersachsen-Bremen

  • LSG Niedersachsen-Bremen: Urteil vom 04.04.2025 – L 7 AS 216/24, Revision: B 4 AS 12/25 R
    • Klärung: Welche Rechte Betroffene im Widerspruchsverfahren behalten.

Verfahren aus Thüringen – Schutzinteressen der Betroffenen

  • Thüringer LSG: Urteil vom 27.03.2024 – L 9 AS 906/22 (n. veröff.), Revision: B 4 AS 18/24 R
    • Fokus: Verhältnis von Schutzinteressen der Leistungsberechtigten und Verwaltungspraktikabilität.

Alle drei Fälle sind nun beim Bundessozialgericht anhängig, das eine einheitliche Klärung herbeiführen will.

Rechtliche Kernfrage: Bestandskraft als Voraussetzung?

Die entscheidende juristische Frage lautet: Darf die Aufrechnung sofort im Erstattungsbescheid erklärt werden – oder erst, wenn dieser bestandskräftig und nicht mehr anfechtbar ist?

  • Pro Jobcenter: Verwaltungsvereinfachung, weniger Aufwand, schnellere Rückführung fehlerhaft gezahlter Leistungen.
  • Pro Bürgergeld-Empfänger: Schutz vor unrechtmäßigen Kürzungen, Recht auf effektiven vorläufigen Rechtsschutz.

Der Ausgang der Verfahren ist daher für die Verwaltungspraxis und für die Rechte zehntausender Betroffener von höchster Bedeutung.

Bedeutung für Betroffene Bürgergeld-Empfänger

Sollte das BSG entscheiden, dass eine Aufrechnung erst nach Bestandskraft zulässig ist:

  • Viele bisherige Bescheide könnten als rechtswidrig gelten.
  • Bereits erfolgte Aufrechnungen wären möglicherweise rückabzuwickeln.

Bleibt das BSG hingegen bei der derzeitigen Verwaltungspraxis:

  • Jobcenter dürften weiterhin sofort aufrechnen.
  • Der Rechtsschutz der Betroffenen wäre eingeschränkt, da Klagen gegen Erstattungsbescheide nicht aufschiebend wirken.

Experteneinschätzung

Rechtswissenschaftler und Sozialverbände argumentieren überwiegend zugunsten der Leistungsbeziehenden. Sie verweisen auf:

  • den Rechtsstaatsgrundsatz,
  • den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG)
  • sowie den sozialstaatlichen Schutzauftrag.

Das BSG könnte sich hier an Urteilen zur Vollziehbarkeit vergleichbarer Verwaltungsakte orientieren.

FAQ

Was bedeutet „bestandskräftig“ im Sozialrecht?

Ein Verwaltungsakt gilt als bestandskräftig, wenn gegen ihn kein Widerspruch mehr möglich ist und er nicht mehr mit Klage angefochten werden kann.

Warum ist die Unterscheidung Erstattungsbescheid und Aufrechnung so wichtig?

Weil mit der Aufrechnung direkt in das Existenzminimum eingegriffen wird. Ohne Bestandskraft würde Bürgergeld schon gekürzt, obwohl die Rechtmäßigkeit noch nicht geklärt ist.

Ab wann ist mit einer Entscheidung des BSG zu rechnen?

Die Verfahren sind 2025 anhängig. Mit einer Entscheidung ist gegen Ende des Jahres oder Anfang 2026 zu rechnen.

Kann man gegen gleichzeitige Aufrechnungsbescheide jetzt schon vorgehen?

Ja, durch Widerspruch und ggf. Eilantrag beim Sozialgericht, um die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen.

Fazit: Höchstrichterliche Klärung mit großer Tragweite

Die anstehenden Entscheidungen des Bundessozialgerichts sind von enormer Bedeutung. Sie betreffen nicht nur einzelne Fälle, sondern potenziell zigtausende Bescheide bundesweit. Sollte das Gericht zugunsten der Leistungsbeziehenden entscheiden, stünde die Rückabwicklung jahrelanger Verwaltungspraxis bevor. Für Betroffene kann das mehr Rechtssicherheit – und im Einzelfall auch mehr Leistungen – bedeuten.

Das Nachrichtenportal Bürger & Geld des Vereins Für soziales Leben e. V. wird die Verfahren weiter begleiten und zeitnah berichten, sobald ein Urteil vorliegt.

Redakteure

  • Peter Kosick

    Jurist und Redakteur

    Peter Kosick hat an der Universität Münster Rechtswissenschaften studiert und beide juristische Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen mit Erfolg abgelegt. Er arbeitet als freiberuflicher Jurist, ist Autor verschiedener Publikationen und hält Vorträge im Bereich Arbeits- und Sozialrecht. Seit mehr als 30 Jahren engagiert er sich im sozialen Bereich und ist seit der Gründung des Vereins "Für soziales Leben e.V." dort Mitglied. Peter Kosick arbeitet in der Online Redaktion des Vereins und ist der CvD. Seinen Artikeln sieht man an, dass sie sich auf ein fundiertes juristisches Fachwissen gründen. Peter hat ebenfalls ein Herz für die Natur, ist gern "draußen" und setzt sich für den Schutz der Umwelt ein. Seine Arbeit im Redaktionsteam von buerger-geld.org gibt ihm das Gefühl,  etwas Gutes für das Gemeinwohl zu tun.

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  • ik
    Experte:

    Sozialrechtsexperte und Redakteur

    Ingo Kosick ist ein renommierter Experte im Bereich des Sozialrechts in Deutschland. Er engagiert sich seit über 30 Jahren in diesem Feld und hat sich als führende Autorität etabliert. Als Vorsitzender des Vereins Für soziales Leben e.V., der 2005 in Lüdinghausen gegründet wurde, setzt er sich für die Unterstützung von Menschen ein, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Der Verein bietet über das Internet Informationen, Beratung und Unterstützung für sozial benachteiligte Menschen an. Ingo Kosick ist zudem ein zentraler Autor und Redakteur auf der Plattform buerger-geld.org, die sich auf Themen wie Bürgergeld, Sozialleistungen, Rente und Kindergrundsicherung spezialisiert hat. Seine Artikel bieten fundierte Analysen und rechtlich aufgearbeitete Informationen, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützen sollen. Durch seine langjährige Erfahrung und sein Engagement hat Ingo Kosick maßgeblich dazu beigetragen, dass sozial benachteiligte Menschen in Deutschland besser informiert und unterstützt werden können.

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