Sachverhalt: Worum ging es?
Im Zentrum des Falls steht ein Bedürftiger, ein Rentner mit einer geringen Rente, der bei der Behörde Grundsicherung im Alter nach dem SGB XII beantragte. Die Sozialbehörde verweigerte jedoch die Leistungen und forderte ihn stattdessen auf, zunächst einen Wohngeldantrag zu stellen. Hintergrund der Behördenpraxis war der Nachranggrundsatz: Sozialhilfe kommt grundsätzlich nachrangig zu anderen Sozialleistungen zum Tragen. Das heißt, vorrangig sollen Mitbürger andere staatliche Unterstützungen, etwa Wohngeld, ausschöpfen. Dies lehnte der Betroffene ab: Er wollte direkt die für ihn günstigere Sozialhilfe beantragen und späteren Zugang zu Zusatzvorteilen (wie ÖPNV-Rabatt, Rundfunkbefreiung) erhalten. Mit dieser Fragestellung zog er durch die Instanzen bis zum Bundessozialgericht.
Der Weg durch die Instanzen
Sowohl Sozialgericht als auch Landessozialgericht hatten wie die Behörde entschieden: Erst Wohngeld beantragen, dann Sozialhilfe. Das BSG setzte sich nun grundlegend mit dieser Praxis auseinander und prüfte, ob die Verwaltung berechtigt ist, Sozialleistungen wegen des Nachrangs zu verweigern, solange der Antragsteller ein Wohngeldanspruch haben könnte.
Juristische Kernaussage des Gerichts
Das BSG entschied, dass der Nachranggrundsatz (§ 2 Abs. 1 SGB XII) keine isolierte Ausschlussnorm ist. Er legt nur die allgemeine Richtung fest, dass andere Hilfen Vorrang haben – begründet jedoch keine Pflicht, in jedem Fall zunächst beispielsweise Wohngeld zu beantragen, um Sozialhilfe zu erhalten. Vielmehr ist der Nachrang programmatisch, d.h. er wird durch spezielle Regelungen im SGB XII konkretisiert und umgesetzt.
Das Gericht erklärte, dass Sozialhilfeträger Anträge nicht pauschal mit Verweis auf den Nachrang und einen möglichen Anspruch auf Wohngeld ablehnen dürfen. Es besteht ein Wahlrecht: Wer die Voraussetzungen für Sozialhilfe erfüllt, kann diese direkt beantragen und muss nicht zwingend zunächst Wohngeldleistungen in Anspruch nehmen.
Entscheidungsgründe im Detail
- Der Nachranggrundsatz des § 2 SGB XII ist kein automatischer Ausschluss, sondern ein „Programmsatz“ – das heißt, die Verwaltung darf eine Leistung nicht allein deshalb verweigern, weil ein anderer Anspruch (wie Wohngeld) möglich wäre.
- Sozialhilfe kann beantragt und – bei Vorliegen der Voraussetzungen – auch dann gewährt werden, wenn ein Antragsteller auf andere mögliche Ansprüche verzichtet.
- Das Gericht stellte klar, dass aus dem Nachrang kein genereller Zwang abgeleitet werden darf, erst andere Leistungen (wie Wohngeld) beantragen zu müssen.
- Auch extreme Ausnahmefälle rechtfertigen keine andere Beurteilung; der Nachrang reicht nicht als eigenständiger Ablehnungsgrund aus.
Auswirkungen des Urteils auf Betroffene
Dank dieses BSG-Urteils dürfen bedürftige Menschen entscheiden, ob sie Sozialhilfe statt Wohngeld beantragen wollen, was ihnen in vielen Fällen zusätzliche Vergünstigungen verschafft. Dazu zählen u. a. ermäßigte Tickets im Nahverkehr, Befreiungen bei Rundfunkbeiträgen und Zugang zu weiteren kommunalen Vergünstigungen.
Für Sozialämter bedeutet das Urteil, dass pauschale Ablehnungen mit Verweis auf den Nachrang künftig unzulässig sind. Es ist stets eine einzelfallbezogene Prüfung vorzunehmen, die allen Rechten und Interessen des Antragstellers gerecht wird.
Bewertung und Einordnung
Fachjuristen wie begrüßen die Entscheidung als „grundsätzlich“ und betonen, dass dies den Rechtsschutz für Leistungsberechtigte gestärkt hat. Die Praxis, Sozialhilfe mit pauschalem Verweis auf den Nachrang zu verwehren, ist damit klar zurückgewiesen worden. Sozialleistungen sollen bedarfsgerecht und bürgernah gewährt werden – das ist der Leitgedanke dieses Urteils.
Schlussfolgerung/Fazit
Das Urteil des BSG vom 23.03.2021, B 8 SO 2/20 R, ist ein Meilenstein im Sozialhilferecht: Bedürftige können ihr Wahlrecht nutzen und gezielt die für sie vorteilhafteste Sozialleistung beantragen. Sozialhilfeträger müssen die Anträge stets einzeln prüfen und dürfen nicht pauschal auf andere Leistungsansprüche verweisen. Damit wurde Rechtssicherheit geschaffen und die Position von Bedürftigen erheblich gestärkt.
Quelle
https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/2021_03_23_B_08_SO_02_20_R.html


