Für soziales Leben e. V.

gemeinnützig & unabhängig

Stand:

Autor: Experte:

Wie Landesgerichte Versorgungsämter zur Anerkennung von Schwerbehinderungen zwingen: Was Menschen mit Behinderung jetzt wissen müssen

Ein spektakulärer Fall aus Baden-Württemberg macht Mut: Eine Rentnerin ließ nicht locker, nachdem ihr Antrag auf Anerkennung eines höheren Grads der Behinderung (GdB) von den Behörden ignoriert wurde. Das Landessozialgericht gab ihr recht und verpflichtete das Versorgungsamt, sämtliche Anträge erneut – und unter Einbeziehung aktueller medizinischer Befunde – zu prüfen. Der nachfolgende Artikel von „Bürger & Geld“, dem Nachrichtenmagazin des Vereins Für soziales Leben e. V., zeigt, wie sich Betroffene gegen behördliche Ignoranz erfolgreich wehren können.

Immer wieder berichten Menschen mit Behinderung von Schwierigkeiten im Umgang mit Versorgungsämtern. Antragstellungen dauern oft Monate, Bearbeitungen bleiben aus oder werden mit pauschalen Ablehnungen beantwortet. Besonders betroffen sind Rentnerinnen und Rentner, die auf einen höheren Grad der Behinderung angewiesen sind – etwa, um einen Schwerbehindertenausweis zu erhalten. Doch auch gegen beharrliches Schweigen oder Ablehnung können Betroffene sich erfolgreich zur Wehr setzen, wie ein aktueller Fall aus Baden-Württemberg beweist.

Ignorierte Anträge: Was Betroffene wissen sollten

In dem nun bekannt gewordenen Fall reichte eine Rentnerin einen Antrag auf Überprüfung ihres bestehenden Grads der Behinderung (GdB) ein. Ihr bisheriger GdB von 40 lag unterhalb der Schwelle, die für einen Schwerbehindertenausweis notwendig ist. Über Monate erhielt sie keine Reaktion vom zuständigen Versorgungsamt. Erst durch ihre Hartnäckigkeit und juristische Unterstützung wurde der Fall vor das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg gebracht.

Das LSG machte deutlich: Die Behörde ist verpflichtet, sämtliche Anträge umfassend zu prüfen und dabei auch neue, aktuelle medizinische Befunde zu berücksichtigen. Ein reines Verweisen auf ältere Akten oder das pauschale Ignorieren von Widersprüchen reicht nicht aus. Der Richterspruch verpflichtet das Amt, das Verfahren ordnungsgemäß fortzuführen und transparente Entscheidungen zu treffen.

Zusammenfassung des Urteils

Das LSG Baden-Württemberg entschied, dass das zuständige Versorgungsamt die Anträge einer Rentnerin auf Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) und der Merkzeichen G und H nicht in angemessener Frist bearbeitet hatte. Die Frau hatte seit 2020 mehrfach Anträge auf Erhöhung ihres GdB und auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises mit Merkzeichen gestellt. Trotz neuer medizinischer Befunde wurden diese Anträge entweder gar nicht oder nur formal als „reines Ausstellungsbegehren“ behandelt – ohne abschließenden Verwaltungsakt.

Das Gericht stellte klar, dass Anträge auf Verschlechterung des GdB sachlich geprüft und die aktuellen gesundheitlichen Befunde berücksichtigt werden müssen. Die Behörde kann sich nicht mit einem Verweis auf ältere Bescheide oder ablehnende Antworten begnügen. Insbesondere erkannte das LSG im konkreten Fall einen Verfahrensfehler des Sozialgerichts: Das Klagebegehren der Rentnerin hätte nicht so eng ausgelegt werden dürfen. Vielmehr umfassen solche Anträge regelmäßig auch das Interesse, überhaupt eine Entscheidung über die begehrte (höhere) Einstufung und die Merkzeichen zu erhalten.

Die Behörde wurde deshalb verpflichtet, die Anträge der Klägerin unter Beachtung der aktuellen Rechtsauffassung des Gerichts und auf Basis der neuen medizinischen Unterlagen zu bescheiden. Eine direkte Zuerkennung eines höheren GdB durch das Gericht erfolgte aber nicht, weil dafür die medizinische Aktenlage noch nicht ausreichend war. Die Klägerin erhält einen Teil ihrer außergerichtlichen Kosten erstattet.

Kernaussagen des Urteils:

  • Versorgungsämter müssen GdB-Anträge zügig und umfassend unter Berücksichtigung neuer Befunde prüfen.
  • Untätigkeit oder pauschale Ablehnung kann mit einer Untätigkeitsklage erfolgreich angegriffen werden.
  • Auch bereits abgelehnte oder unbearbeitete Anträge können durchgesetzt werden, wenn neue Befunde oder Verschlechterungen vorliegen.

Dieses Urteil stärkt die Rechte aller Antragsteller:innen, die mit Verzögerungen oder Ignoranz von Seiten der Behörden bei GdB-Anträgen konfrontiert werden.

Wichtiger Hinweis: Es handelt sich bei dieser Zusammenfassung um die wesentlichen Punkte des öffentlich zugänglichen Urteilstextes.

vollständige Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 06.12.2024 zum Aktenzeichen L 8 SB 2779/24 auf folgender offiziellen Seiten nachlesen: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/177363/pdf

Rechtliche Hintergründe und Chancen für Betroffene

Ein wichtiger Aspekt dieses Falls: Auch abgelehnte oder lange unbearbeitete Anträge verlieren nicht automatisch ihre Aussicht auf Erfolg. Das sozialrechtliche Verfahren sieht ausdrücklich einen Anspruch auf vollständige Anhörung und Berücksichtigung aller vorliegenden Befunde vor. Besonders, wenn sich der Gesundheitszustand geändert hat oder neue Diagnosen hinzukommen, müssen diese zwingend einbezogen werden.

Betroffene sollten in ähnlichen Fällen folgende Schritte beachten:

  • Fristen und schriftliche Nachweise sorgfältig dokumentieren.
  • Bei ausbleibender Reaktion eine schriftliche Sachstandsanfrage oder Erinnerung an das Amt richten.
  • Im Widerspruchsfall aktuelle medizinische Dokumente nachreichen.
  • Gegebenenfalls Hilfe durch Sozialverbände oder Fachanwälte in Anspruch nehmen.
  • Den Gang vor das Sozialgericht nicht scheuen, wenn grundsätzliche Rechte verletzt werden.

Bedeutung für Schwerbehindertenanträge und Nachteilsausgleiche

Ein GdB von mindestens 50 ist die Voraussetzung für den Schwerbehindertenausweis und zahlreiche Nachteilsausgleiche, etwa steuerliche Erleichterungen, Zusatzurlaub oder besondere Kündigungsschutzrechte. Die Rechtsdurchsetzung bei Versäumnissen oder Ignoranz der Ämter ist daher für Betroffene essenziell, um Chancengleichheit zu sichern und unberechtigte Benachteiligungen zu vermeiden.

Die Entscheidung des LSG Baden-Württemberg ist ein Signal: Versorgungsämter stehen in der Pflicht, Betroffene fair und nach aktuellem Stand der Wissenschaft zu bewerten. Klare Urteile schaffen Rechtssicherheit und geben Antragstellern Handlungsoptionen.

Fazit

Gerade für ältere oder gesundheitlich eingeschränkte Menschen ist ein transparenter Umgang mit den Versorgungsämtern unabdingbar. Der jüngste Fall aus Baden-Württemberg fordert Behörden zur sorgfältigen Arbeit und Berücksichtigung aktueller Befunde auf. Betroffene sollten sich bei Problemen nicht scheuen, juristische Schritte einzuleiten und ihre Ansprüche hartnäckig zu verfolgen – denn nicht bearbeitete oder abgelehnte Anträge sind kein Schicksal, sondern eine Aufforderung zum Handeln.

Redakteure

  • Peter Kosick

    Jurist und Redakteur

    Peter Kosick hat an der Universität Münster Rechtswissenschaften studiert und beide juristische Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen mit Erfolg abgelegt. Er arbeitet als freiberuflicher Jurist, ist Autor verschiedener Publikationen und hält Vorträge im Bereich Arbeits- und Sozialrecht. Seit mehr als 30 Jahren engagiert er sich im sozialen Bereich und ist seit der Gründung des Vereins "Für soziales Leben e.V." dort Mitglied. Peter Kosick arbeitet in der Online Redaktion des Vereins und ist der CvD. Seinen Artikeln sieht man an, dass sie sich auf ein fundiertes juristisches Fachwissen gründen. Peter hat ebenfalls ein Herz für die Natur, ist gern "draußen" und setzt sich für den Schutz der Umwelt ein. Seine Arbeit im Redaktionsteam von buerger-geld.org gibt ihm das Gefühl,  etwas Gutes für das Gemeinwohl zu tun.

    Alle Beiträge ansehen Peter Kosick
  • ik
    Experte:

    Sozialrechtsexperte und Redakteur

    Ingo Kosick ist ein renommierter Experte im Bereich des Sozialrechts in Deutschland. Er engagiert sich seit über 30 Jahren in diesem Feld und hat sich als führende Autorität etabliert. Als Vorsitzender des Vereins Für soziales Leben e.V., der 2005 in Lüdinghausen gegründet wurde, setzt er sich für die Unterstützung von Menschen ein, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Der Verein bietet über das Internet Informationen, Beratung und Unterstützung für sozial benachteiligte Menschen an. Ingo Kosick ist zudem ein zentraler Autor und Redakteur auf der Plattform buerger-geld.org, die sich auf Themen wie Bürgergeld, Sozialleistungen, Rente und Kindergrundsicherung spezialisiert hat. Seine Artikel bieten fundierte Analysen und rechtlich aufgearbeitete Informationen, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützen sollen. Durch seine langjährige Erfahrung und sein Engagement hat Ingo Kosick maßgeblich dazu beigetragen, dass sozial benachteiligte Menschen in Deutschland besser informiert und unterstützt werden können.

    Alle Beiträge ansehen Ingo Kosick

Hinweis zur Redaktion und zum Faktencheck
Die Redaktion von Bürger & Geld prüft sämtliche Artikel vor Veröffentlichung sorgfältig nach aktuellen gesetzlichen Grundlagen, offiziellen Statistiken und seriösen Quellen wie Bundesministerien, Sozialverbänden und wissenschaftlichen Studien. Unser Redaktionsteam besteht aus erfahrenen Fachautorinnen für Sozialpolitik, die alle Inhalte regelmäßig überarbeiten und aktualisieren. Jeder Text durchläuft einen strukturierten Faktencheck-Prozess sowie eine redaktionelle Qualitätssicherung, um höchste Genauigkeit und Transparenz zu gewährleisten. Bei allen wesentlichen Aussagen werden Primärquellen direkt im Fließtext verlinkt. Die Unabhängigkeit von Werbung und Drittinteressen sichert neutralen Journalismus – zum Schutz unserer Leserinnen und zur Förderung der öffentlichen Meinungsbildung.


Verantwortlich für die Inhalte auf dieser Seite: Redaktion des Vereins Für soziales Leben e. V. – Ihre Experten rund um Soziale Sicherheit und Altersvorsorge.