Das Bürgergeld steht vor seinem Neustart
Die schwarz-rote Bundesregierung unter Kanzler Merz hat sich im Oktober 2025 auf eine tiefgreifende Reform der Grundsicherung geeinigt. Das bisherige Bürgergeld, das erst Anfang 2023 in Kraft trat, soll in seiner jetzigen Form abgeschafft und durch eine neue Grundsicherung mit schärferen Regeln und strengeren Pflichten ersetzt werden. Der Gesetzentwurf, der, wenn möglich, Anfang 2026 in Kraft treten soll, ist politisch umstritten – vor allem verfassungsrechtlich.
Kritiker sprechen von einem Rückfall in alte Hartz-IV-Strukturen. Befürworter sehen in der Reform eine notwendige Korrektur, um mehr Anreize zur Arbeit zu setzen. Doch die entscheidende Frage lautet: Ist das neue Bürgergeld mit der Verfassung, insbesondere dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, überhaupt vereinbar?
Was ändert sich beim neuen Bürgergeld?
Das Bürgergeld bleibt als Leistungssystem grundsätzlich bestehen, erhält aber ein deutlich anderes Profil. Nach dem Willen der Bundesregierung wird aus der „Fördern-und-Vertrauen“-Logik wieder ein „Fördern-und-Fordern“-Prinzip.
1. Die Regelsätze bleiben stabil
Zum ersten Mal seit Jahren werden die Regelsätze nicht erhöht. Damit bleiben sie 2025 und 2026 bei demselben Niveau:
- Alleinstehende: 563 Euro monatlich
- Kinder unter 6 Jahren: 357 Euro
- Kinder ab 14 Jahren: 471 Euro
Eine Nullrunde gilt also auch 2026, weil das Kabinett die Regelbedarfsfortschreibung ausgesetzt hat – trotz gestiegener Lebenshaltungskosten. Die Regierung argumentiert, dass die bisherigen Anhebungen 2023 und 2024 bereits die hohen Inflationsraten kompensierten.
2. Unterkunftskosten bleiben gedeckt – aber mit Einschränkungen
Die Jobcenter übernehmen weiterhin die „angemessenen“ Wohn- und Heizkosten. Wer zu teuer wohnt, soll künftig schneller zum Umzug verpflichtet werden.
Die Karenzzeit, während der in den ersten zwölf Monaten die tatsächlichen Mietkosten voll übernommen werden, wird abgeschafft. Kritikern zufolge werden damit vor allem Familien und Alleinerziehende finanziell stärker belastet.
3. Kooperationspflichten und neue Sanktionen
Zentraler Punkt der Reform ist die Wiedereinführung von strengen Pflichten. Schon bei der Antragstellung erfolgt ein verpflichtendes Erstgespräch im Jobcenter.
Dort wird gemeinsam mit der antragstellenden Person ein Kooperationsplan festgelegt, der detailliert regelt:
- welche Qualifizierungsmaßnahmen besucht werden müssen,
- welche Bewerbungsaktivitäten erwartet werden,
- welche Fristen einzuhalten sind.
Wer diese Vorgaben nicht erfüllt, riskiert Sanktionen. Und diese Verschärfungen sind der Kern der verfassungsrechtlichen Diskussion.
Die Rückkehr harter Sanktionen – und die Debatte um die Verfassung
Der neue Sanktionskatalog
Die neue Regelung sieht eine Sanktionskaskade (dreimal plus eins) vor:
- Bei erstem Verstoß (z. B. verpasster Jobcenter-Termin): Androhung der Kürzung des Regelsatzes um 30 Prozent für einen Monat.
- Wiederholter Verstoß: Kürzung um 30 Prozent.
- Ditter Verstoß: Streichung des Regelsatzes
- Noch ein Versotoß: Grundsicherung kann vollständig gestrichen werden – inklusive Mietzuschuss.
Damit droht im Extremfall Obdachlosigkeit und vollständiger Leistungsentzug, wenn sich jemand dauerhaft weigert, an Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen oder Jobangebote anzunehmen.
Regierung: „Wir bleiben im Rahmen des Grundgesetzes“
Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) verteidigt die Verschärfungen mit der Begründung:
„Wir verschärfen die Sanktionen bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist.“
Die Regierung betont, dass Sanktionen nicht automatisch verhängt würden, sondern am Ende einer „Sanktionskette“ stehen. Zudem seien sie immer das Ergebnis „individueller Entscheidungen“ des Jobcenters. Man halte sich an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Was sagt das Bundesverfassungsgericht?
In seinem grundlegenden Urteil vom 5. November 2019 (Az. 1 BvL 7/16) hat das Bundesverfassungsgericht entschieden:
- Kürzungen über 30 Prozent des Regelbedarfs sind mit dem Grundgesetz unvereinbar.
- Totalsanktionen – also der vollständige Leistungswegfall – verletzen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum.
- Sanktionen müssen immer verhältnismäßig und geeignet sein, um den Zweck der Arbeitsmarktintegration zu fördern.
Damals ging es noch um die Sanktionen in Hartz IV. Dennoch gilt das Urteil als Maßstab für alle Nachfolgesysteme. Das Gericht stellte klar: Der Staat darf Leistungen mindern, aber nicht so weit, dass Betroffene „unter das Existenzminimum gedrückt“ werden. Genau dieser Punkt ist nun umstritten.
Juristische Einschätzungen: Zwischen Menschenwürde und Eigenverantwortung
Die Sozialrechtsprofessorin Andrea Kießling (Universität Frankfurt) hält die geplanten Totalsanktionen für verfassungsrechtlich problematisch:
„Für bloße Meldeversäumnisse kann man meiner Meinung nach nicht die Leistungen für die Unterkunft streichen – das überschreitet die Grenze zur Verletzung der Menschenwürde“, erklärte sie in der ZEIT.
Ähnlich äußert sich Verfassungsrechtler Friedhelm Hufen:
„Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gesagt, dass das Existenzminimum durch Sanktionen niemals vollständig entzogen werden darf.“
Beide Juristen verweisen darauf, dass die neue Totalstreichung von Geld und Unterkunft widerspricht, was Karlsruhe 2019 ausdrücklich verboten hatte.
Gegenposition: Gesetzgeber hat Spielräume
Der ehemalige Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, sieht dagegen keinen klaren Verfassungsverstoß:
„Selbst eine vollständige Streichung kann verhältnismäßig sein, wenn sie darauf abzielt, Betroffene wieder in Arbeit zu bringen.“.
Das Bundesverfassungsgericht habe dem Gesetzgeber einen gewissen Gestaltungsspielraum gelassen. Auch das Grundgesetz garantiere das Existenzminimum nicht bedingungslos, sondern im Rahmen der „Mitwirkungspflichten“, die im Sozialrecht gelten.
Der Kern des Konflikts: Menschenwürde versus Arbeitsanreiz
Das Problem der neuen Reform liegt damit im Spannungsfeld zwischen zwei Grundprinzipien:
- Artikel 1 GG – Schutz der Menschenwürde: Der Staat muss das physische und soziokulturelle Existenzminimum jedes Menschen sichern.
- Artikel 20 GG – Sozialstaatsprinzip: Jeder soll nach eigenen Kräften zur Gemeinschaft beitragen.
Mit der möglichen Totalsanktion könnte der Staat jene Schwelle überschreiten, an der die soziale Teilhabe nicht mehr gewährleistet ist. Kritiker warnen, dass die Reform nicht zwischen Verweigerern aus Überzeugung und hilfebedürftigen Menschen in Notlagen differenziert.
Wie viele wären betroffen?
Laut Arbeitsministerium gibt es derzeit rund 5,3 Millionen Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger in Deutschland. Davon sind:
- 3,9 Millionen erwerbsfähig,
- etwa 1,4 Millionen Kinder oder nicht erwerbsfähige Angehörige.
Unter den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten sind:
- 2,2 Millionen Beschäftigte mit ergänzendem Bürgergeld,
- rund 1,7 Millionen Arbeitslose.
Sanktionen betrafen im letzten Jahr etwa 23.000 Menschen – meist wegen versäumter Termine oder Maßnahmen. Künftig dürfte diese Zahl steigen, sobald die verschärften Regeln greifen.
Kritik von Verbänden und Sozialforschung
Der Paritätische Wohlfahrtsverband
Der Verband bezeichnet die Reform als „kalkulierten verfassungsrechtlichen Konflikt“. Geschäftsführer Ulrich Schneider warnt:
„Wer die Wohnung verliert, weil Leistungen gestrichen werden, kann nicht mehr an einer Eingliederungsmaßnahme teilnehmen – das ist absurd.“
Der Verein Sanktionsfrei
Der Aktivistenverband spricht sogar von einem „Verfassungsbruch auf Ansage“. Totalsanktionen verletzten fundamentale Menschenrechte und widersprächen den europäischen Sozialnormen.
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
Das DIW sieht in den geplanten Änderungen keinen nachweisbaren arbeitsmarktpolitischen Effekt, sondern befürchtet eine Rückkehr zu Stigmatisierung und Druck. Schon das Hartz-IV-System habe gezeigt, dass Sanktionen häufig zur Verfestigung von Armut führen.
Regierung: Rückkehr zur „Eigenverantwortung“
Bundeskanzler Friedrich Merz und Arbeitsministerin Bas verteidigen die Reform mit dem Argument der gesellschaftlichen Fairness. Viele Steuerzahler erwarteten zu Recht, dass Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen die Mitwirkungspflichten ernst nehmen.
„Es geht um Gerechtigkeit gegenüber allen, die arbeiten und Steuern zahlen“, so Kanzler Merz laut Tagesschau.
Ziel der neuen Regelungen sei kein „Strafsystem“, sondern eine „Klarstellung des gegenseitigen Verantwortungsverhältnisses“ zwischen Staat und Leistungsberechtigten. Förderung solle es weiter geben – aber nur für Mitwirkende.
Was bleibt unverändert?
Trotz aller Verschärfungen bleiben einige zentrale Elemente des bisherigen Bürgergelds bestehen:
- Förderung von Weiterbildung und Qualifizierung als Integrationsweg statt bloß kurzfristiger Vermittlung.
- Schonvermögen bleibt erhöht: Vermögen bis 40.000 Euro (bzw. 15.000 Euro pro zusätzlichem Haushaltsmitglied) bleibt unangetastet.
- Karenzzeit beim Vermögenseinsatz: Während der ersten 12 Monate müssen Ersparnisse nicht angetastet werden.
Allerdings sollen laut Koalitionsvertrag diese Regeln bei „Arbeitsverweigerung“ künftig strenger überprüft werden.
Verfassungsrechtliche Bewertung im Überblick
Aspekt | Bewertung durch Juristen |
---|---|
30%-Sanktionen | Verfassungsmäßig laut Urteil 2019, wenn verhältnismäßig |
Totalsanktion (100%) | Hoch umstritten: Karlsruhe sah dies als unvereinbar mit Menschenwürde |
Wohnkostenstreichung | Kritisch: Verlust der Unterkunft gefährdet das Existenzminimum. |
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers | Besteht grundsätzlich, aber nicht unbegrenzt. |
Verfassungsänderung nötig? | Nein, aber Gericht wird wohl erneut prüfen müssen. |
Ausblick: Karlsruhe wird wieder entscheiden
Viele Beobachter gehen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht erneut angerufen wird, sobald die Reform in Kraft tritt. Sozialverbände und Gewerkschaften haben bereits angekündigt, Verfassungsbeschwerden vorzubereiten.
Dabei könnte Karlsruhe eine präzisere Definition des Existenzminimums liefern: Wie weit darf der Gesetzgeber gehen, wenn jemand seine Mitwirkungspflichten verletzt? Muss das Mindeste immer gewährt bleiben – oder darf der Staat in bestimmten Fällen jede Unterstützung entziehen?
Fazit: Neues Bürgergeld – alte Spannungen
Die Bürgergeldreform 2026 markiert eine politische Kehrtwende. Nach zwei Jahren Milde folgt die Rückkehr zu Disziplin, Kontrolle und Sanktionierung.
Ob diese Neuausrichtung das Vertrauen in den Sozialstaat stärkt oder schwächt, wird sich zeigen. Sicher ist: Die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung um das Existenzminimum geht in eine neue Runde.
Das Grundgesetz garantiert die Menschenwürde – aber es bindet sie auch an soziale Verantwortung. Zwischen diesen Polen wird sich die Rechtsprechung künftig erneut positionieren müssen.