Ein Rückschritt in der sozialen Sicherheit
Mit der für 2026 geplanten neuen „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ vollzieht Deutschland nach Auffassung des Vereins Für soziales Leben e.V. einen markanten sozialpolitischen Richtungswechsel. Das Bürgergeld, erst 2023 als humanere und verfassungskonforme Alternative zu Hartz IV eingeführt, soll wieder verschärften Kontroll- und Strafmechanismen weichen.
Die geplanten Total-Sanktionen bedrohen das soziokulturelle Existenzminimum vieler Menschen und rütteln an Grundwerten der Verfassung. Nach dem Willen der Regierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz sollen wieder Kürzungen bis zu 100 Prozent der Leistungen, einschließlich Miete und Heizkosten, möglich sein. Damit droht ein Rückfall in Politikmuster, die das Bundesverfassungsgericht bereits 2019 in zentralen Punkten als verfassungswidrig eingestuft hat.
Der Verein Für soziales Leben e.V. sieht in dieser Reform eine inhumane Neuauflage des alten Hartz-IV-Systems in noch strengerer Form. Sie steht im Widerspruch zu Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes, die Menschenwürde und Sozialstaatlichkeit garantieren.
Geplanter Sanktionsrahmen ab 2026: Die neue „Dreimal-plus-eins“-Regel
Die neue Grundsicherung führt laut Regierungsentwurf eine klar strukturierte Sanktionskaskade ein, die bereits ab der ersten Pflichtverletzung greift :
- Erster Verstoß: 30 % Kürzung des Regelsatzes bei unentschuldigtem Fehlen zu einem Jobcenter-Termin oder Ablehnung eines zumutbaren Arbeitsangebots.
- Zweiter Verstoß: Weitere 30 % Kürzung – die Grundsicherung sinkt um fast zwei Drittel.
- Dritter Verstoß: Vollständiger Wegfall der Geldleistung für mindestens einen Monat (Miete und Heizung bleiben vorerst erhalten).
- „Plus eins“-Stufe: Bei fortgesetzter Verweigerung werden alle Leistungen – inklusive Wohngeld und Heizkosten – gestrichen, bis eine Kooperation mit dem Jobcenter erfolgt.
Diese Kette kann innerhalb weniger Wochen zur vollständigen Existenzvernichtung führen. Auch die bisherige „Schonzeit“ für Sanktionen entfällt; selbst ein einmaliges Nichterscheinen kann sofort finanzielle Kürzungen auslösen.
In der Praxis trifft diese Logik nicht nur sogenannte „Totalverweigerer“, sondern auch Menschen mit psychischen Problemen, familiären Krisen oder Kommunikationshürden. Härtefallregelungen sollen zwar bestehen, sind aber an hohe Nachweisanforderungen gebunden.
Sozialpolitische Zielsetzung der Regierung
Die Bundesregierung begründet die Verschärfung mit der Absicht, die „Arbeitsmoral“ zu stärken und Einsparungen im Sozialhaushalt zu erzielen. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas sprach von bis zu 1 Milliarde Euro Einsparpotenzial, indem 100 000 Menschen schneller aus der Hilfe herausgeführt würden.
Doch wirtschaftspolitisch betrachtet basiert diese Kalkulation auf einer Zwangslogik: Nicht zusätzliche Arbeitsplätze oder Qualifizierungsangebote sollen Armut verringern, sondern Druck, Existenzunsicherheit und Sanktionen. Damit kehrt das Prinzip des „Förderns“ dem „Fordern“ erneut den Rücken zu.
Der Verein Für soziales Leben e.V. lehnt diesen Ansatz entschieden ab. Er widerspricht dem Geist des Sozialstaates, nach dem Hilfe zur Selbsthilfe nie durch Zwang ersetzt werden darf. Arbeitslose werden zu Objekten staatlicher Disziplinierung, nicht zu Subjekten gesellschaftlicher Teilhabe.
Verfassungsrechtliche Bewertung der Sanktionspläne
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019
Das Bundesverfassungsgericht (1 BvL 7/16, Urteil vom 5. November 2019) hat eindeutig festgestellt, dass das Existenzminimum nicht disponibel ist. Kürzungen von mehr als 30 Prozent sind mit der Menschenwürde unvereinbar. Der Staat darf den Leistungsanspruch nur soweit reduzieren, wie er zur Mitwirkung an der Wiedereingliederung zwingend erforderlich ist.
Sanktionen, die das physische Existenzminimum gefährden – etwa durch die Streichung von Unterkunfts- und Heizkosten – wurden ausdrücklich ausgeschlossen. Damit hat Karlsruhe die Grenzen staatlicher Eingriffsgewalt in den Kernbereich der Menschenwürde definiert.
Die geplante Totalstreichung ab 2026
Die geplanten 100%-Sanktionen brechen nach Auffassung des Vereins mit diesen Grundsätzen. Die vollständige Einstellung sämtlicher Leistungen, einschließlich Mietzahlungen, widerspricht nicht nur Artikel 1 Absatz 1 GG, sondern auch Artikel 20 Absatz 1 GG – dem Sozialstaatsprinzip.
Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass selbst Fehlverhalten eines Leistungsberechtigten den Staat nicht von seiner Verantwortung entbindet, das Minimum zum Überleben sicherzustellen. Die neue Sanktionsregelung könnte daher – wie schon 2019 – verfassungswidrig sein.
Hinzukommt die faktische Unverhältnismäßigkeit: Ein Verstoß gegen eine Meldepflicht wird mit einem Verlust bestraft, der den kompletten Lebensunterhalt betrifft. Das verletzt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Menschenwürdegarantie und Existenzminimum
Nach der Rechtsprechung schützt die Menschenwürdegarantie (Art. 1 GG) das Recht auf eine Mindestexistenz in Würde. Dieses umfasst Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Heizung, Gesundheitspflege und gesellschaftliche Teilhabe. Keine politische Zielsetzung – auch nicht Arbeitsmotivation – darf dieses Fundament antasten.
Eine Totalstreichung, wie sie das neue Gesetz möglicherweise vorsieht, verletzt diesen Schutz unmittelbar. Die Betroffenen verlieren mit einem Verwaltungsakt nicht nur Geld, sondern oft auch Wohnung, Gesundheit und soziale Bindungen. Damit wird das Grundrecht zur theoretischen Worthülse.
Praktische Folgen: Armut, Obdachlosigkeit, Entmutigung
Risiko wachsender Wohnungslosigkeit
Die neue Sanktionierungspraxis bedroht viele Leistungsbeziehende akut mit Wohnungsverlust. Sobald Miete und Heizkosten eingestellt werden, können Betroffene innerhalb weniger Wochen ihre Wohnung verlieren. Sozialverbände rechnen deshalb ab 2026 mit einem Anstieg von Notlagen, Zwangsräumungen und psychischen Krisen.
Gerade in Großstädten, wo die Mietpreise ohnehin rasant steigen, bedeutet die Streichung der Unterkunftskosten de facto eine Zwangsräumung durch Verwaltungshandeln.
Psychische Belastung und Ausgrenzung
Schon das bisherige Sanktionssystem führte nachweislich zu Angst, Depression und Rückzug. Mit der neuen Grundsicherung wird diese Wirkung potenziert: Jede Pflichtverletzung hat sofort Konsequenzen, selbst kurzfristige Erkrankungen müssen minutiös nachgewiesen werden.
Der Verein Für soziales Leben e.V. bewertet das als psychosozial unzumutbar. Eine Politik, die Menschen durch Drohung mit Armut „motivieren“ will, verfehlt ihren Zweck. Teilhabe entsteht nicht durch Angst, sondern durch Vertrauen und Förderung.
Strukturelle Probleme: Fehlende staatliche Kapazitäten und Willkürgefahren
Bereits heute sind viele Jobcenter personell und strukturell überlastet. Härtere Sanktionen bedeuten mehr Verwaltungsaufwand, mehr Widersprüche, mehr Klagen.
Zudem droht Willkür: Entscheidungen über Sanktionen hängen oft von individuellen Sachbearbeitern ab. Regionale Unterschiede führen zu Ungleichbehandlung – das verletzt den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG).
Auch die digitale Kommunikation zwischen Jobcentern und Bürgern bleibt fehleranfällig. Schon heute erreichen viele Bescheide Menschen zu spät oder gar nicht. Werden dann Leistungen vollständig gestrichen, trifft die Strafe oft Unschuldige.
Europäische und menschenrechtliche Dimension
Die geplanten Sanktionen kollidieren auch mit internationalen Verpflichtungen Deutschlands. Sowohl die Europäische Sozialcharta (Art. 13) als auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 34) sichern das Recht auf soziale Unterstützung und menschenwürdige Lebensbedingungen.
Selbst die UN-Menschenrechtskommission hat wiederholt betont, dass Sozialleistungen zur Gewährleistung des Überlebens nicht vollständig entzogen werden dürfen.
Die Neue Grundsicherung 2026 könnte somit nicht nur national verfassungswidrig, sondern auch völkerrechtswidrig sein.
Gesellschaftliche Perspektive: Von der Solidarität zur Kontrolle
Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt ein deutliches Auseinanderdriften von Armutsbekämpfung und Arbeitsmarktlogik. Während das Bürgergeld auf Augenhöhe und Weiterbildung setzte, verfolgt die Neue Grundsicherung eine Kontrollstrategie: Arbeitslose werden potenziell als Problem, nicht als Bürger gesehen.
Diese Symbolpolitik nutzt die sozial Schwächsten als Projektionsfläche für gesellschaftlichen Unmut. Sie schafft kein Vertrauen in staatliche Institutionen, sondern Misstrauen und Scham. Der Verein Für soziales Leben e.V. warnt: Ein Sozialstaat, der Menschen mit Sanktionen diszipliniert, verliert seine moralische Grundlage.
Alternativen zur Sanktionsverschärfung
1. Vertrauensbasierte Förderung
Anstelle harter Strafen braucht es verlässliche Beratung, Weiterbildung und psychologische Unterstützung. Studien zeigen, dass Vermittlungserfolge langfristig steigen, wenn Jobcenter partnerschaftlich statt repressiv agieren.
2. Sozialer Arbeitsmarkt statt Arbeitszwang
Ein staatlich geförderter sozialer Arbeitsmarkt könnte Menschen ohne realistische Jobchancen Beschäftigung, Würde und Struktur bieten – ohne Zwang, aber mit echter Teilhabe.
3. Schutz des Existenzminimums durch Gesetz
Der Verein fordert eine verfassungsfeste Garantie des Existenzminimums, die weder durch Sanktionen noch durch Verwaltungspraxis angetastet werden darf. Die Deckelung von Kürzungen auf maximal 30 Prozent sollte gesetzlich fixiert bleiben, wie es das Bundesverfassungsgericht vorgab.
Juristische Konsequenzen: Verfassungsklage absehbar
Mehrere Sozialverbände und Rechtsexperten bereiten laut Medienberichten bereits Verfassungsklagen gegen die neue Regelung vor. Nach Einschätzung des Vereins werden diese Klagen Erfolg haben.
Die 100%-Sanktionen verstoßen gegen:
- Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde)
- Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatlichkeit)
- Art. 3 GG (Gleichbehandlung)
- Art. 2 Abs. 2 GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit durch indirekte Gesundheitsgefährdung bei Obdachlosigkeit und Unterversorgung)
Das Gericht dürfte ähnlich urteilen wie 2019 und die Totalstreichung der Leistungen erneut kassieren.
Forderungen des Vereins Für soziales Leben e.V.
Der Verein richtet folgende konkrete Forderungen an Bundesregierung und Bundestag:
- Verzicht auf Totalsanktionen und Einhaltung der verfassungsrechtlich zulässigen Sanktionsobergrenze von 30 %.
- Schaffung rechtssicherer Härtefallregelungen, die sozialpsychologische Probleme und gesundheitliche Einschränkungen berücksichtigen.
- Stärkere Förderung statt Bestrafung: Ausbau von Weiterbildung, Coaching und psychosozialer Betreuung.
- Einführung unabhängiger Jobcenter-Ombudsstellen, um Willkür und Fehlentscheidungen entgegenzuwirken.
- Transparenzpflichten: Jede Sanktion muss nachvollziehbar und rechtlich überprüfbar begründet werden.
- Sozialer Wohnraumschutz: Auch bei Sanktionen dürfen Mietzahlungen nicht eingestellt werden.
Schlussbetrachtung: Verantwortung für die Würde des Menschen
Die Neue Grundsicherung 2026 steht an einem Scheideweg zwischen sozialer Verantwortung und politischer Härte. Der Verein Für soziales Leben e.V. appelliert an Politik und Gesellschaft, den Kurs zu überdenken.
Ein Sozialstaat, der Menschen mit Sanktionen statt Chancen begegnet, gefährdet seine eigene moralische Legitimation.
Die geplanten Maßnahmen sind nicht nur sozialpolitisch rückwärtsgewandt, sondern verfassungsrechtlich bedenklich und gesellschaftlich spaltend.
Unser gemeinsames Ziel sollte nicht die Disziplinierung, sondern die Ermächtigung der Menschen sein – mit Vertrauen, Unterstützung und echter sozialer Sicherheit. Nur so bleibt der Sozialstaat, was ihn laut Grundgesetz ausmacht: eine Gemeinschaft, die niemanden fallen lässt.
Verein Für soziales Leben e.V.