Hintergrund: Was ist ein Arbeitsunfall?
Ein Arbeitsunfall liegt rechtlich dann vor, wenn sich eine Person während einer versicherten Tätigkeit verletzt. Die gesetzliche Unfallversicherung greift bei Unfällen, die im Zusammenhang mit der ausgeführten Tätigkeit stehen. Das umfasst Handlungen, die unmittelbar zur Erfüllung der Arbeitspflicht dienen oder in einem engen sachlichen Zusammenhang damit stehen.
Klassische Beispiele sind:
- eine Verletzung beim Bedienen von Maschinen,
- ein Sturz auf dem Weg zur Toilette innerhalb des Betriebs,
- ein Wegeunfall von und zur Arbeit, sofern er direkt erfolgt.
Nicht jeder Vorfall am Arbeitsplatz wird jedoch automatisch als Arbeitsunfall anerkannt. Insbesondere private Tätigkeiten wie Essen, Trinken oder Rauchen gelten grundsätzlich als „eigenwirtschaftliche Handlungen“.
Der konkrete Fall: Verletzung beim Kaffeetrinken
Ausgangspunkt des Verfahrens vor dem Bundessozialgericht war ein Arbeitnehmer, der in einer kurzen Arbeitspause Kaffee holen wollte. Auf dem Weg dorthin kam es zum Unfall: Der Betroffene stürzte und verletzte sich erheblich.
Die zuständige Berufsgenossenschaft verweigerte die Anerkennung als Arbeitsunfall. Begründung: Der Gang zur Kaffeemaschine diene nicht der Erfüllung betrieblicher Pflichten, sondern sei eine private Verrichtung im Interesse des Arbeitnehmers.
Zunächst klagten die Versicherten gegen diese Entscheidung. Mehrere Instanzen hatten sich mit dem Fall zu beschäftigen, ehe das Verfahren schließlich beim Bundessozialgericht (BSG) in Kassel landete.
Die Entscheidung des Bundessozialgerichts
Das Bundessozialgericht bestätigte klar: Kaffeetrinken ist kein Arbeitsunfall. Der Gang zur Kaffeemaschine gehört nicht zu den „betrieblichen Tätigkeiten“, sondern ist eine eigenwirtschaftliche Handlung.
Die Richter führten aus:
- Essen und Trinken sind „grundsätzliche menschliche Bedürfnisse“ und nicht durch betriebliche Interessen veranlasst.
- Auch wenn Kaffee für den Arbeitstag förderlich sein kann, besteht kein unmittelbarer Bezug zur Arbeitsleistung, wie es zum Beispiel beim Toilettengang anerkannt wird.
- Damit scheidet eine Haftung der gesetzlichen Unfallversicherung aus.
Fakten zum Urteil des Bundessozialgerichts
Das aktuelle Urteil des Bundessozialgerichts stammt vom 24. September 2025 und trägt das Aktenzeichen B 2 U 11/23 R. In diesem Urteil hat das Gericht entschieden, dass ein Unfall beim Holen eines Kaffees grundsätzlich kein Arbeitsunfall ist, da es sich meist um eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit handelt und nicht um eine versicherte Handlung.
Allerdings betont das Bundessozialgericht, dass Ausnahmen möglich sind: Findet der Unfall im betrieblichen Sozialraum statt, den der Arbeitgeber ausdrücklich für die Getränkeversorgung vorgesehen hat, und tritt eine betriebliche Betriebsgefahr zutage (z. B. Ausrutschen auf einem von der Firma gereinigten nassen Boden), kann die gesetzliche Unfallversicherung im Einzelfall greifen.
Relevante Entscheidungsdaten:
- Datum: 24. September 2025
- Aktenzeichen: B 2 U 11/23 R
- Rechtliche Grundlage: § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII – Unfall infolge einer versicherten Tätigkeit.
Das Urteil des Bundessozialgerichts bestätigt damit den allgemeinen Grundsatz der Rechtsprechung und liefert für die Rechts- und Sozialpraxis eindeutige Orientierung.
Abgrenzung: Welche Situationen sind versichert, welche nicht?
Die Rechtsprechung unterscheidet sehr genau, welche Verrichtungen am Arbeitsplatz unter den Schutz der Unfallversicherung fallen.
Versichert sind unter anderem:
- Tätigkeit im unmittelbaren Auftrag des Arbeitgebers
- Wege innerhalb des Betriebsgeländes, wenn sie zur Ausführung der Arbeit notwendig sind
- Wege zum Toilettengang, da diese ein „unmittelbares Bedürfnis“ darstellen
- Dienstreisen und dienstlich begründete Wege
Nicht versichert sind hingegen:
- Essen und Trinken während der Arbeitszeit
- Raucherpausen
- Holen von Kaffee oder Snacks
- Private Gespräche oder persönliche Erledigungen während der Arbeitszeit
Das BSG macht mit seinem Urteil deutlich, dass die gesetzliche Unfallversicherung strenge Grenzen zieht und nicht jede Tätigkeit während der Arbeitszeit geschützt ist.
Folgen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber
Für Arbeitnehmer bedeutet das Urteil, dass sie sich des Risikos bewusst sein müssen: Wer beim Kaffeeholen stürzt, hat keinen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Leistungen wie:
- Heilbehandlung
- Rehabilitationsmaßnahmen
- Rentenzahlungen bei dauerhaften Schäden
entfallen in solchen Fällen.
Arbeitgeber wiederum können mit diesem Urteil ihre Haftung eingrenzen. Zwar haben Unternehmen eine allgemeine Fürsorgepflicht, doch die Pflicht zur Absicherung gegen private Handlungen der Arbeitnehmer besteht nicht im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung.
So sind Pausen und Wege rechtlich zu bewerten
Besonders spannend ist die rechtliche Bewertung von Pausen:
- Arbeitspause selbst: Eigenwirtschaftliche Zeit, grundsätzlich nicht versichert.
- Toilettenwege: Anders als beim Kaffeetrinken sind diese versichert, weil sie dem unaufschiebbaren Bedürfnis dienen.
- Wege zur Kantine: Nicht versichert, da auch hier eigenwirtschaftliches Handeln im Vordergrund steht.
- Wege im Betrieb zur Arbeitsaufnahme oder -beendigung: Versichert, solange sie unmittelbar dem Erreichen des Arbeitsplatzes dienen.
Der Vergleich zeigt: Das Bundessozialgericht zieht klare Grenzen zwischen privater und betrieblicher Handlung.
Expertenmeinung: Bedeutung für die Praxis
Arbeitsrechtsexperten betonen die Signalwirkung des Urteils. Viele Beschäftigte gehen davon aus, dass sie während der gesamten Arbeitszeit im Betriebssitz umfassend unfallversichert sind. Das ist jedoch nicht der Fall.
Gerade in modernen Arbeitsumgebungen mit offenen Büros, Aufenthaltsräumen und Pausenzonen ist das Risiko von Missverständnissen groß. Die Entscheidung des BSG bringt hier Klarheit: Arbeitgeber müssen nicht für jeden Unfall im Bürogebäude verantwortlich gemacht werden.
Für Arbeitnehmer bedeutet das aber auch: Prävention wird umso wichtiger. Stolperfallen, nasse Böden oder schlecht gesicherte Kabel können ein Risiko darstellen – auch wenn diese Unfälle nicht über die Unfallversicherung abgesichert sind.
FAQ
Ist ein Sturz auf dem Weg zur Toilette ein Arbeitsunfall?
Ja, dieser Weg ist versichert, da es sich um ein unabweisbares Grundbedürfnis handelt.
Bin ich versichert, wenn ich in der Kantine stürze?
Nein. Der Weg sowie der Aufenthalt in der Kantine sind eigenwirtschaftlich geprägt.
Was ist bei Dienstreisen?
Alle dienstlich veranlassten Wege, auch innerhalb von Hotels oder Konferenzräumen, stehen unter Schutz der Unfallversicherung – solange sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tätigkeit stehen.
Gibt es Ausnahmen beim Essen und Trinken?
Nur in seltenen Fällen. Wenn das Trinken betriebsbedingt erforderlich ist (z. B. Trinken von Flüssigkeit bei Arbeiten in großer Hitze), könnte ein Zusammenhang bestehen.
Wie sollte man als Arbeitnehmer reagieren?
Bei Unfällen in Pausensituationen sollte trotzdem der Arbeitgeber informiert werden. Auch wenn der Fall nicht über die Unfallversicherung läuft, könnten andere Versicherungen (Krankenversicherung oder private Unfallversicherung) eintreten.
Fazit
Das Urteil des Bundessozialgerichts macht deutlich: Nicht jede Verletzung während der Arbeitszeit ist ein Arbeitsunfall. Kaffeetrinken ist eine private, eigenwirtschaftliche Tätigkeit und fällt nicht unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Für Arbeitnehmer bedeutet das ein erhöhtes Eigenrisiko in Pausen. Arbeitgeber hingegen gewinnen Rechtssicherheit, da die Grenzen klar definiert sind.
Gerade im Kontext von Pausen, Sozialräumen und modernen Arbeitskonzepten zeigt sich: Unfallversicherung schützt primär die Arbeit – nicht das Wohlfühlprogramm.