Selbstbestimmung in der Rente? Für viele bald passé
Lange galt: Das Eintrittsalter in die gesetzliche Rente kann weitgehend nach eigenen Plänen gewählt werden. Doch zunehmend werden sozial schwache und erkrankte Menschen von Behörden gezwungen, Anträge auf Erwerbsminderungs- oder vorgezogene Altersrenten zu stellen, selbst wenn sie dadurch Renteneinbußen erleiden. Ab 2027 droht diese Praxis durch ein neues Gesetz ganz offiziell – mit massiven Folgen für Empfänger von Bürgergeld und andere Betroffene.
Was bedeutet “Zwangsverrentung” konkret?
Von Zwangsverrentung spricht man, wenn jemand von Behörden verpflichtet wird, eine Rente zu beantragen – entweder wegen Erwerbsminderung (EM-Rente) oder als vorgezogene Altersrente mit Abschlägen. Das Recht auf freiwilligen Renteneintritt wird damit beschränkt.
Betroffen sind vor allem:
- Empfänger von Bürgergeld (ehemals Hartz IV)
- Langzeiterkrankte
- Menschen mit Sozialhilfe
- Arbeitslose, die keine Vermittlungschancen mehr haben.
Die aktuelle Lage (2025): Schon heute kein freier Renteneintritt für viele
Schon heute können Sozialleistungsträger den Renteneintritt erzwingen:
- Krankenkassen fordern Reha-Anträge. Wird eine Reha als aussichtslos bewertet, gilt der Antrag in der Regel direkt als EM-Rentenantrag.
- Arbeitsagenturen und Jobcenter können Betroffene auffordern, einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen – bei Verweigerung droht der Verlust von Leistungen.
- Sozialämter stellen nötigenfalls selbst einen EM-Rentenantrag für die Betroffenen.
Problem:
Die EM-Rente fällt meist niedriger aus als die reguläre Altersrente. Zusätzlich sind Rentenanwartschaften dauerhaft gemindert; spätere Aufstockungen oder Verbesserungen greifen oft nicht mehr.
Ab 2027: Zwangsverrentung per Gesetz für Bürgergeld-Empfänger
Politische Hintergründe
Zum 1. Januar 2027 wird das Moratorium zur Zwangsverrentung auslaufen. Jobcenter dürfen dann wieder Bürgergeld-Empfänger ab dem frühestmöglichen Rentenalter (aktuell ab 63 Jahren) in eine Altersrente mit Abschlägen schicken – gegen deren Willen.
Die Konsequenzen im Überblick
- Abschläge von bis zu 14,4% bei einem Rentenbeginn vier Jahre vor der Regelaltersgrenze (0,3% pro Monat)
- Dauerhafte Einbußen beim Rentenniveau – auch für spätere Erhöhungen oder für die Hinterbliebenenrente
- Bei niedrigen Renten besteht das Risiko, auf Grundsicherung im Alter angewiesen zu sein
Besondere Härte tritt für Menschen mit lückenhafter Erwerbsbiografie und mit ohnehin geringer Rente ein – sie tragen das größte Risiko für Altersarmut.
Aktuelle Zahlen und praktische Rechenbeispiele
Wie hoch ist die Durchschnittsrente 2025?
- Gesamtdurchschnitt: ca. 1.100 Euro brutto monatlich (alle Versicherten)
- Personen mit mindestens 35 Versicherungsjahren: ca. 1.623 Euro brutto
- Eckrente nach 45 Versicherungsjahren: ca. 1.835,55 Euro brutto.
Typische Abschläge bei vorzeitiger Altersrente
Ausgangsrente (brutto) | Abschlagsmonate | Abschlag (in %) | Endbetrag (brutto) |
---|---|---|---|
1.100 € | 48 | 14,4% | 941,60 € |
1.500 € | 48 | 14,4% | 1.284,00 € |
1.800 € | 48 | 14,4% | 1.540,80 € |
2.200 € | 48 | 14,4% | 1.884,80 € |
Diese Abschläge mindern das gesamte spätere Einkommen – auch Rentenerhöhungen greifen nur anteilig.
Beispiel Erwerbsminderungsrente 2025
- Voll erwerbsgemindert: 1.223,70 € brutto (bei 30 Entgeltpunkten)
- Teilweise erwerbsgemindert: 611,85 € brutto
- Freibeträge für Hinzuverdienst: 19.661 € (voll), 39.322 € (teilweise) pro Jahr.
Wer ist besonders betroffen – und warum trifft es Geringverdiener am härtesten?
Die Gefahr der Zwangsverrentung besteht besonders für:
- Bürgergeld-Empfänger zwischen 63 und 67 Jahren
- Langzeitarbeitslose mit niedrigen Rentenanwartschaften
- Menschen mit Krankheiten oder Erwerbsminderung
Gerade Geringverdiener und sozial Benachteiligte können den Rentenkürzungen kaum entgehen. Zusatzrenten oder private Rücklagen sind selten vorhanden, die Gefahr von Altersarmut steigt deutlich.
Politische und gesellschaftliche Debatte
Befürworter der Regelung argumentieren, die Zwangsverrentung sei ein Mittel, um die Sozialsysteme zu entlasten und den Bezug von Bürgergeld zu beenden. Kritiker sehen darin eine Verschärfung von Altersarmut, eine Entwürdigung der Betroffenen und einen Bruch mit dem Prinzip der Selbstbestimmung.
Sozialverbände und Gewerkschaften fordern Rechtsanspruch auf einen frei gewählten Rentenbeginn und wirksame Schutzregelungen vor Kürzungen.
Rechtsschutz und Handlungsmöglichkeiten
Es gibt Möglichkeiten, sich gegen eine Zwangsverrentung zu wehren – sie erfordern jedoch energisches und informiertes Vorgehen:
- Widerspruch gegen Ermessensentscheidungen der Behörden einlegen
- Juristische Beratung durch Anwälte und Sozialverbände einholen
- Gutachten zur Erwerbsfähigkeit rechtzeitig selbst organisieren
Wichtig ist, den Prozess aktiv zu begleiten – ansonsten kann die Behörde einen Rentenantrag im Zweifel selbst stellen, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
FAQ: Die häufigsten Fragen zur Zwangsverrentung
Ab wann gilt die Zwangsverrentung wieder?
Ab dem 1. Januar 2027 dürfen Jobcenter Bürgergeld-Empfänger ab 63 zur vorgezogenen Altersrente verpflichten.
Wie hoch sind die Abschläge?
Maximal 14,4% bei Renteneintritt vier Jahre vor der Regelaltersgrenze (0,3% pro Monat)
Betrifft das auch Erwerbsminderungsrenten?
Ja. Sozialämter und Krankenkassen können schon heute zur Beantragung einer EM-Rente drängen, wenn die Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist.
Welche Ausnahmen gibt es?
Wenige Schutzregelungen in Härtefällen, zum Beispiel bei nachgewiesener Aussicht auf kurzfristige Beschäftigung oder drohende Altersarmut durch zu geringe Rente (Unbilligkeitsverordnung).
Kann ich den Antrag verweigern?
Wer sich verweigert, verliert Bürgergeld-Anspruch – das ist in der Praxis kaum durchzuhalten.
Fazit: Selbstbestimmung auf dem Prüfstand – eine Kernfrage für den Sozialstaat
Die Zwangsverrentung ab 2027 ist mehr als ein Detail des Sozialrechts. Sie betrifft die Würde und Zukunftschancen hunderttausender Menschen und stellt das Prinzip der Selbstverantwortung infrage. Die aktuelle politische Entwicklung verlangt von Bürgergeld-Beziehern besondere Aufmerksamkeit und Eigeninitiative – von der Beratung bis zur Rechtsdurchsetzung. Auch im Sinne eines ausbalancierten Sozialstaats sollte dieses Thema weiter kritisch diskutiert und begleitet werden.