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„Nicht hilfebedürftig“ – wie ein junger Solo-Selbstständiger trotz Armut durchs Raster des Bürgergeld-Systems fällt

Junger Solo-Selbstständiger, kein fester Wohnsitz, wachsende Schulden: Während das Jobcenter monatelang prüft, verliert er jeden Halt – und am Ende heißt es trotzdem „nicht hilfebedürftig“.

Schon wieder ein Fall, der zeigt, wie dünn das soziale Netz geworden ist: Ein junger Mann ohne festen Wohnsitz, mit prekären Solo-Einnahmen, kämpft monatelang um Bürgergeld – und bekommt am Ende einen Ablehnungsbescheid, weil das Jobcenter ihn nicht als „hilfebedürftig“ einstuft. Während sein Antrag unbearbeitet liegen bleibt, wächst der Schuldenberg, die Untermietverhältnisse wechseln, schließlich fehlt sogar der sichere Schlafplatz. Was wie ein Einzelfall klingt, verweist auf strukturelle Probleme im Umgang mit Selbstständigen, Wohnungslosen und Menschen am Rand des Existenzminimums – alle Infos dazu finden sich hier auf „Bürger & Geld“, dem Nachrichtenmagazin des Vereins Für soziales Leben e. V..​

Der Fall: Drei Monate warten, dann die Ablehnung

Nach Angaben der „Jobcenter Academy“ handelt es sich um einen jungen Solo-Selbstständigen, der mit sehr geringen Einnahmen versucht, seine laufenden Kosten zu decken. Einen stabilen Mietvertrag gibt es nicht mehr, nur wechselnde Untermieten und Couchsurfing bei Bekannten.​

Der Mann stellt einen Antrag auf Bürgergeld, wartet rund drei Monate auf eine Entscheidung – und erhält schließlich eine Ablehnung. Begründung des Jobcenters: Trotz Minieinkünften liege keine Hilfebedürftigkeit vor.​

Während der Bearbeitungszeit rutschen Konto und Kasse immer weiter ins Minus. Miete auf Zeit, Schulden, Druck von Gläubigern und die ständige Suche nach einem Schlafplatz verstärken die existentielle Unsicherheit.​

Was „Hilfebedürftigkeit“ rechtlich bedeutet

Rechtlich liegt Hilfebedürftigkeit vor, wenn Einkommen und Vermögen nicht ausreichen, den Lebensunterhalt auf dem gesetzlichen Existenzminimum zu sichern. Maßstab sind dabei die Bürgergeld-Regelbedarfe und die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung.​

Für Alleinstehende liegt der Regelbedarf 2025 bei 563 Euro im Monat, hinzu kommen die Unterkunftskosten, sofern sie als angemessen gelten. Wer weniger zur Verfügung hat, gilt grundsätzlich als hilfebedürftig und kann Bürgergeld beanspruchen.​

Gerade bei Selbstständigen laufen Berechnungen komplex: Prognosen, Betriebsausgaben, schwankende Einnahmen und Freibeträge erschweren eine realistische Einschätzung. Wie die „Gegen-Hartz“-Redaktion berichtete, rechnete das zuständige Jobcenter im vorliegenden Fall mit Einkommen, das den Bedarf angeblich decke.​

Bürgergeld und Selbstständigkeit: Anspruch trotz kleiner Umsätze

Grundsätzlich gilt: Auch Selbstständige haben Anspruch auf Bürgergeld, wenn ihre Gewinne nicht reichen, um das Existenzminimum zu sichern. Das gilt ebenso für Solo-Selbstständige mit deutlich schwankenden oder saisonalen Einnahmen.​

Unterstützung wird als aufstockende Grundsicherung gewährt: Das Jobcenter berücksichtigt Betriebskosten, setzt Freibeträge an und prüft, ob nach Abzug aller Posten noch genug zum Leben bleibt. Fachportale wie „Firmenhilfe“ oder Steuer-Apps für Selbstständige betonen, dass Mini-Gewinne kein Ausschlusskriterium sind, sondern gerade die Brücke zur Grundsicherung öffnen sollen.​

Kritisch wird es, wenn Jobcenter mit optimistischen Prognosen arbeiten und künftige Einnahmen ansetzen, die in der Realität nicht eintreffen. Dann wird Hilfebedürftigkeit auf dem Papier beseitigt, während die faktische Notlage weiter besteht.​

Bürgergeld ohne festen Wohnsitz: Anspruch bleibt bestehen

Der Fall zeigt auch: Ein fehlender fester Wohnsitz ist kein Ausschlussgrund für Bürgergeld. Gefordert wird ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland – kein klassischer Mietvertrag.​

Rechtsratgeber und Sozialportale betonen, dass auch wohnungslose Menschen Anspruch auf Bürgergeld haben, solange sie erwerbsfähig und hilfebedürftig sind. Als Kontaktadresse können etwa Notunterkünfte, Beratungsstellen oder die Adresse von Angehörigen dienen.​

Die Praxis bleibt jedoch schwierig: Unklare postalische Erreichbarkeit, ständig wechselnde Adressen und fehlende Kontoangaben führen häufig zu Verzögerungen und Nachfragen. Wer ohnehin am Rand der Obdachlosigkeit lebt, kann monatelange Bearbeitungszeiten aber kaum überbrücken.​

Wenn Wartezeiten ins Existenzminimum schneiden

Der geschilderte Fall reiht sich ein in eine Serie von Berichten über lange Bearbeitungszeiten und auslaufende Fristen bei existenzsichernden Leistungen. In einem vielbeachteten Verfahren rügte etwa das Bundesverfassungsgericht Versäumnisse von Jobcenter und Sozialgericht im Umgang mit einer Bürgergeld-Empfängerin.​

Die Richter stellten klar, dass das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht durch Verfahrensverzögerungen faktisch ausgehöhlt werden darf. Speziell bei drohender Obdachlosigkeit sind Jobcenter und Gerichte gehalten, besonders sorgfältig und zügig zu handeln.​

In Fachkommentaren ist längst von einer „Totalverweigerung des Existenzminimums“ die Rede, wenn Leistungen trotz klarer Notlage faktisch nicht gewährt oder monatelang verzögert werden. Sozialrechtliche Blogs verweisen darauf, dass schon kurze Unterbrechungen massiven Schaden bei Betroffenen anrichten können.​

Wie das Jobcenter rechnete – und was das Problem ist

Im von der „Jobcenter Academy“ veröffentlichten Fall scheint das Jobcenter die selbstständige Tätigkeit des Mannes als ausreichend anzusehen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Berichtet wird, dass prognostizierte Einkünfte und pauschale Annahmen letztlich zur Ablehnung führten.​

Dabei stellt sich die Frage, ob die tatsächlichen Lebensumstände – Schulden, instabile Unterkunft, fehlende Rücklagen – ausreichend berücksichtigt wurden. Fachliche Weisungen der Bundesagentur für Arbeit betonen, dass für die Ablehnung wegen fehlender Hilfebedürftigkeit die materielle Lage vollständig aufgeklärt sein muss.​

Kritiker warnen seit Jahren, dass bei Selbstständigen oft eine Schönrechnerei stattfindet, um den Zugang zu Leistungen zu begrenzen. Der Bundesrechnungshof monierte in einem Bericht, Jobcenter müssten Dauerbezug verhindern, dürften aber die tatsächliche Bedürftigkeit nicht aus dem Blick verlieren.​

Tabelle: Bürgergeld-Anspruch bei Solo-Selbstständigkeit

Nachfolgend ein vereinfachter Überblick über zentrale Anspruchsvoraussetzungen für Solo-Selbstständige im Bürgergeld-System.​

AspektRegelung für Solo-SelbstständigeHinweis
ErwerbsfähigkeitMindestens 3 Stunden täglich arbeitsfähig.​Gilt unabhängig vom Beschäftigungsstatus.​
AlterZwischen 15 Jahren und Rentenalter.​Danach ggf. Grundsicherung im Alter.​
HilfebedürftigkeitEinkommen/Vermögen decken Bedarf nicht.​Minieinnahmen können Anspruch begründen.​
Wohnsitz / AufenthaltGewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland erforderlich.​Fester Mietvertrag nicht zwingend.​
Höhe Regelbedarf 2025563 € für Alleinstehende pro Monat.​Zuzüglich Unterkunftskosten.​
Selbstständige TätigkeitMuss „angemessen“ und realistisch tragfähig sein.​Sonst Druck zur Aufgabe möglich.​

Rechtliche Möglichkeiten nach Ablehnung

Wer einen ablehnenden Bürgergeld-Bescheid erhält, hat das Recht, Widerspruch einzulegen. Die Frist beträgt in der Regel einen Monat nach Zugang des Bescheids.​

Ratgeberportale und Anwaltskanzleien empfehlen, zunächst den Bescheid genau zu prüfen und beim Jobcenter die Berechnungen offenlegen zu lassen. Häufig lassen sich Fehler bei Einkommensanrechnung, Freibeträgen oder Bedarfsberechnung nachweisen.​

Hält das Jobcenter am Standpunkt fest, ist der Gang zum Sozialgericht möglich. In existenziellen Notlagen kann zusätzlich ein Eilantrag gestellt werden, um zumindest vorläufige Leistungen zu erhalten.​

Strukturelle Schwächen: Wenn Systemlogik Lebensrealität ignoriert

Der Fall des jungen Solo-Selbstständigen ohne festen Wohnsitz macht exemplarisch sichtbar, wo das System an Grenzen stößt. Die bürokratische Logik der Prognoseberechnungen trifft auf eine Lebenswirklichkeit, die von Unsicherheit und spontanen Notlösungen geprägt ist.​

Fachbeiträge zur Grundsicherung für Selbstständige weisen darauf hin, dass gerade kleine Ein-Personen-Unternehmen stark von Konjunktur, Auftragslage und Gesundheit abhängen. Schon wenige Wochen ohne Einnahmen können aus einer „prekär“ noch gerade so tragbaren Selbstständigkeit einen akuten Notfall machen.​

Sozialrechtliche Kommentierungen erinnern daran, dass das Bürgergeld dem Schutz des Existenzminimums dient – nicht der Optimierung fiktiver Wirtschaftlichkeitsrechnungen. Wenn die praktische Umsetzung diesem Anspruch widerspricht, droht das Vertrauen in den Sozialstaat zu erodieren.​

FAQ zum Thema Bürgergeld, Selbstständigkeit und Wohnungslosigkeit

Haben Solo-Selbstständige ohne festen Wohnsitz Anspruch auf Bürgergeld?

Ja, wenn sie erwerbsfähig, hilfebedürftig und überwiegend in Deutschland aufhältig sind. Ein fehlender Mietvertrag schließt den Anspruch nicht aus, solange eine erreichbare Adresse angegeben werden kann.

Darf das Jobcenter Bürgergeld mit Verweis auf Mini-Einkünfte verweigern?

Bürgergeld darf nur verweigert werden, wenn das verfügbare Einkommen den gesetzlichen Bedarf tatsächlich deckt. Werden Einnahmen zu optimistisch angesetzt oder Betriebskosten unterschätzt, kann dies rechtswidrig sein.

Was können Betroffene bei Ablehnung tun?

Betroffene können Widerspruch einlegen, Bescheide prüfen lassen und gegebenenfalls vor dem Sozialgericht klagen. In akuten Notlagen ist zusätzlich ein Eilantrag möglich, um eine schnelle Entscheidung zu erzwingen.

Wie lange darf ein Jobcenter für die Bearbeitung eines Antrags brauchen?

Es gibt keine starre Frist im Gesetz, aber Gerichte haben betont, dass existenzsichernde Leistungen zügig bearbeitet werden müssen. Zieht sich ein Verfahren unangemessen hin, können Rechtsmittel und Eilanträge Erfolg haben.

Bekommen obdachlose Menschen Bürgergeld auch ohne Konto?

Ja, ein fehlendes Konto ist kein Ausschlussgrund. Die Auszahlung kann über Alternativen wie Auszahlungsanordnungen oder spezielle Kontomodelle erfolgen, sofern die Identität nachgewiesen wird.

Fazit: Wenn der Sozialstaat auf Kante genäht ist

Der von der „Jobcenter Academy“ publik gemachte Fall zeigt, wie schnell Menschen in prekären Solo-Selbstständigkeiten und ohne festen Wohnsitz durchs Raster fallen können, obwohl das Bürgergeld genau ihr Existenzminimum sichern soll. Verzögerte Bescheide, optimistische Einkommensprognosen und die strenge Auslegung von „Hilfebedürftigkeit“ verwandeln das Schutzsystem in ein Risiko – mit Obdachlosigkeit und Überschuldung als möglicher Folge.​

Gerichte und Fachkommentare erinnern daran, dass das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum Vorrang haben muss, auch wenn Verwaltung und Budget unter Druck stehen. Für ein Nachrichtenportal wie „Bürger & Geld“ des Vereins Für soziales Leben e. V. bleibt es Auftrag, solche Fälle sichtbar zu machen, Missstände zu benennen und Betroffene mit verständlichen Informationen zu ihren Ansprüchen zu stärken.​

Redakteure

  • Peter Kosick

    Jurist und Redakteur

    Peter Kosick hat an der Universität Münster Rechtswissenschaften studiert und beide juristische Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen mit Erfolg abgelegt. Er arbeitet als freiberuflicher Jurist, ist Autor verschiedener Publikationen und hält Vorträge im Bereich Arbeits- und Sozialrecht. Seit mehr als 30 Jahren engagiert er sich im sozialen Bereich und ist seit der Gründung des Vereins "Für soziales Leben e.V." dort Mitglied. Peter Kosick arbeitet in der Online Redaktion des Vereins und ist der CvD. Seinen Artikeln sieht man an, dass sie sich auf ein fundiertes juristisches Fachwissen gründen.

    Peter hat ebenfalls ein Herz für die Natur, ist gern "draußen" und setzt sich für den Schutz der Umwelt ein.

    Seine Arbeit im Redaktionsteam von buerger-geld.org gibt ihm das Gefühl,  etwas Gutes für das Gemeinwohl zu tun.

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  • ik
    Experte:

    Sozialrechtsexperte und Redakteur

    Ingo Kosick ist ein renommierter Experte im Bereich des Sozialrechts in Deutschland. Er engagiert sich seit über 30 Jahren in diesem Feld und hat sich als führende Autorität etabliert. Als Vorsitzender des Vereins Für soziales Leben e.V., der 2005 in Lüdinghausen gegründet wurde, setzt er sich für die Unterstützung von Menschen ein, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Der Verein bietet über das Internet Informationen, Beratung und Unterstützung für sozial benachteiligte Menschen an.

    Ingo Kosick ist zudem ein zentraler Autor und Redakteur auf der Plattform buerger-geld.org, die sich auf Themen wie Bürgergeld, Sozialleistungen, Rente und Kindergrundsicherung spezialisiert hat. Seine Artikel bieten fundierte Analysen und rechtlich aufgearbeitete Informationen, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützen sollen.

    Durch seine langjährige Erfahrung und sein Engagement hat Ingo Kosick maßgeblich dazu beigetragen, dass sozial benachteiligte Menschen in Deutschland besser informiert und unterstützt werden können.

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