Für soziales Leben e. V.

gemeinnützig & unabhängig

Stand:

Autor: Experte:

Chronisch erschöpft nach Virusinfektion im Job: LSG zwingt Unfallversicherung zur Rente

Plötzlich nie wieder richtig leistungsfähig – und die Versicherung winkt ab. Eine Erzieherin kämpft sich durch Gutachten, Gerichtssäle und Zweifel, bis das LSG Berlin-Brandenburg entscheidet: Das Chronische Erschöpfungssyndrom nach einer Virusinfektion im Job ist zu entschädigen, die Berufsgenossenschaft muss eine Rente zahlen. Was dieses Urteil für Beschäftigte mit CFS, Long-Covid und anderen Folgeerkrankungen bedeutet, lesen Sie hier.

Wenn der Körper nach einer Virusinfektion nie wieder zur alten Kraft zurückfindet, zerbricht oft nicht nur die Gesundheit, sondern die gesamte Lebensplanung. Wer plötzlich nicht mehr als wenige Stunden am Tag durchhält, verliert den Beruf, die finanzielle Sicherheit – und häufig auch das Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme. Umso größer ist die Bedeutung eines Urteils des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg: Eine Erzieherin erhält wegen eines Chronischen Erschöpfungssyndroms (CFS) nach einer Virusinfektion am Arbeitsplatz eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 Prozent zugesprochen. Alle Hintergründe, rechtlichen Konsequenzen und praktischen Hinweise finden sich hier auf Bürger & Geld, dem Nachrichtenmagazin des Vereins Für soziales Leben e. V..​

Fakten

Die im Jahr 1969 geborene Erzieherin arbeitete an einer Grundschule im östlichen Berliner Umland, als Anfang 2012 sechs Kinder an Ringelröteln erkrankten. Kurz darauf wurde auch sie stationär behandelt, im Labor wurde das Parvovirus B19 als Auslöser der Ringelröteln nachgewiesen. Was zunächst wie eine akute Infektion wirkte, entwickelte sich zur lebensprägenden Zäsur: Anhaltende massive Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, körperliche und geistige Einbrüche führten dazu, dass die Erzieherin dauerhaft nicht mehr in ihren Beruf zurückkehren konnte.​

Das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg im Überblick

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in Potsdam hat mit Urteil vom 27. November 2025 (Az.: L 3 U 206/19) entschieden, dass die gesetzliche Unfallversicherung auch die langfristigen Folgen der Virusinfektion entschädigen muss. Konkret wurde die Berufsgenossenschaft zur Zahlung einer Rente wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 Prozent verurteilt, nachdem sie zuvor die Anerkennung des CFS als Folge der Berufskrankheit verweigert hatte.​

Die Berufsgenossenschaft hatte zwar bereits 2014 die Parvovirus-B19-Infektion als Berufskrankheit nach Nr. 3101 der Berufskrankheitenliste anerkannt, lehnte aber Leistungen für das Chronische Erschöpfungssyndrom ab. Das Sozialgericht Frankfurt (Oder) gab der Erzieherin zunächst weitgehend Recht und sprach zeitweise sogar eine MdE von 60 bis 80 Prozent zu, wogegen die Berufsgenossenschaft Berufung einlegte. Das LSG bestätigte nun den ursächlichen Zusammenhang zwischen Virusinfektion und CFS, reduzierte aber die Höhe der MdE einheitlich auf 40 Prozent und damit die zu zahlende Rente.​

Chronisches Erschöpfungssyndrom: Vom diffusen Krankheitsbild zur anerkannten Berufskrankheit

Das Gericht stützte sich auf umfangreiche medizinische Gutachten, die einen Zusammenhang zwischen der gesicherten Parvovirus-B19-Infektion und dem später aufgetretenen Chronischen Erschöpfungssyndrom herstellten. Entscheidend war, dass andere Ursachen – etwa psychische Vorerkrankungen oder konkurrierende körperliche Leiden – nicht in vergleichbarem Umfang die Symptome erklären konnten. In der Berichterstattung wurde hervorgehoben, dass das LSG das CFS explizit als Folge der beruflich bedingten Virusinfektion anerkannt und damit die Position der Versicherten in ähnlich gelagerten Fällen gestärkt habe.​

Chronisches Erschöpfungssyndrom beziehungsweise Myalgische Enzephalomyelitis (ME/CFS) war in der gesetzlichen Unfallversicherung lange ein „Streitfeld“, weil der Nachweis eines konkreten Auslösers und einer klaren Kausalkette schwierig ist. Die Entscheidung aus Berlin-Brandenburg reiht sich nun in eine rechtliche Entwicklung ein, in der auch Fatigue-Syndrome und ähnliche Langzeitfolgen – etwa nach Covid‑19 – zunehmend als mögliche Unfallfolgen oder Berufskrankheitsfolgen anerkannt werden.​

Berufskrankheit Nr. 3101: Infektionen im Dienst an Kindern, Kranken und Hilfebedürftigen

Die Infektion der Erzieherin wurde unter der Berufskrankheit Nr. 3101 („Infektionskrankheiten“) anerkannt, die insbesondere Beschäftigte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege und in Einrichtungen der Kinderbetreuung schützt. Voraussetzung ist, dass die betroffene Person im Rahmen der versicherten Tätigkeit in besonderem Maße der Gefahr einer Infektion ausgesetzt war, wie es hier durch den engen Kontakt zu erkrankten Kindern der Fall war.​

Mit der Anerkennung als Berufskrankheit ist der Zugang zum vollen Leistungsspektrum der gesetzlichen Unfallversicherung eröffnet – von Heilbehandlung und Reha über Verletztengeld bis hin zur Verletztenrente bei dauerhafter Minderung der Erwerbsfähigkeit. Nach den einschlägigen Regeln beginnt ein Rentenanspruch, wenn die Erwerbsfähigkeit über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um mindestens 20 Prozent gemindert ist; im Fall der Erzieherin sah das Gericht eine MdE von 40 Prozent als gerechtfertigt an.​

Warum die Entscheidung Signalwirkung für CFS‑ und Long‑Covid‑Betroffene hat

Juristen sprechen in ersten Stellungnahmen von einem Urteil mit „Präzedenzwirkung“, auch wenn es formal nur den konkreten Einzelfall betrifft. Wie etwa n‑tv und spezialisierte Sozialrechtsportale berichteten, zeigt die Entscheidung, dass Unfallversicherungsträger sich bei postinfektiösen Fatigue-Syndromen nicht pauschal auf Beweisprobleme zurückziehen können, wenn eine klare Infektionssituation im Beruf und konsistente Gutachten vorliegen.​

Besonders bedeutsam ist der Schulterschluss zur aktuellen Debatte um Long‑Covid und Post‑Covid: Das Bundesgesundheitsministerium weist inzwischen ausdrücklich darauf hin, dass Long‑Covid‑Erkrankungen unter bestimmten Voraussetzungen als Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit gelten und damit Ansprüche gegenüber der gesetzlichen Unfallversicherung auslösen können. Gleichzeitig zeigt die Rechtsprechung, dass die Anerkennung keineswegs automatisch erfolgt: In anderen Verfahren wurde ein Rentenanspruch wegen Fatigue-Syndrom nach Covid‑19 mit Verweis auf unklare Kausalität oder konkurrierende Faktoren abgelehnt.​

Welche Leistungen die gesetzliche Unfallversicherung schuldet

Mit der Feststellung einer Berufskrankheit und einer MdE von 40 Prozent erhält die Erzieherin eine Verletztenrente, die einen dauerhaften Einkommensverlust teilweise ausgleichen soll. Neben der laufenden Rente kommen weitere Leistungen in Betracht, etwa umfassende Heilbehandlung, medizinische Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und gegebenenfalls Hilfen zur sozialen Teilhabe.​

Die Verletztenrente wird nach dem Jahresarbeitsverdienst vor dem Versicherungsfall bemessen, wobei der Prozentsatz der Minderung der Erwerbsfähigkeit die Höhe bestimmt. Im Fall von Langzeitfolgen wie CFS oder Long‑Covid ist zudem wichtig, dass der Gesundheitszustand in Abständen erneut begutachtet werden kann – sowohl Besserungen als auch Verschlechterungen können zu Anpassungen der MdE und damit der Rentenhöhe führen.​

CFS, Long‑Covid und Co.: Was Betroffene jetzt beachten sollten

Für Beschäftigte, die nach einer nachweislichen Virusinfektion im Arbeitsumfeld anhaltende Erschöpfung, Konzentrationsstörungen oder andere typische CFS‑ bzw. Long‑Covid‑Symptome entwickeln, wird die konsequente Dokumentation zum Schlüsselfaktor. Ärztliche Befunde, stationäre Berichte, Reha‑Entlassungsberichte und spezialisierte Gutachten sind entscheidend, um den zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang zur Infektion aufzuzeigen.​

Darüber hinaus empfiehlt die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Verdachtsfälle frühzeitig der zuständigen Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse zu melden – dies kann durch den Arbeitgeber, aber auch durch Betroffene oder Angehörige veranlasst werden. Wird die Erkrankung als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall anerkannt, öffnet dies den Weg zu Heilbehandlung, Reha, Verletztengeld und – bei dauerhaften Einschränkungen – zur Verletztenrente.​

Konflikte mit der Berufsgenossenschaft: Klage, Gutachten, langer Atem

Der Fall der Erzieherin zeigt, dass der Weg zur Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung oft nur mit erheblichem Durchhaltevermögen und juristischer Unterstützung zu bewältigen ist. Die Berufsgenossenschaft hatte zwar die Infektion anerkannt, verweigerte aber Leistungen für das CFS, sodass die Erzieherin zunächst vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) klagen musste und erst vor dem Landessozialgericht eine endgültige Klärung erreichte.​

Wie Fachbeiträge berichten, kommt es gerade bei schwer fassbaren Krankheitsbildern wie CFS, ME/CFS, Long‑ oder Post‑Covid häufig zu Auseinandersetzungen über die Kausalität und die Höhe der MdE. Rechtliche Beratung durch spezialisierte Sozialrechtsanwälte, unabhängige medizinische Gutachten und die sorgfältige Aufbereitung des Verlaufs der Erkrankung können die Erfolgschancen einer Klage deutlich erhöhen.​

Bedeutung für Beschäftigte in Kitas, Schulen, Pflege und Gesundheitswesen

Besonders exponiert sind Berufsgruppen, die täglich engen Kontakt zu Kindern, Kranken oder pflegebedürftigen Menschen haben – also Erzieherinnen und Erzieher, Lehrer, Pflegekräfte und medizinisches Personal. Für sie spielt die Berufskrankheit Nr. 3101 eine zentrale Rolle, weil hier die besondere Infektionsgefahr im beruflichen Alltag anerkannt wird.​

Damit greift die Entscheidung des LSG in eine Realität ein, in der Virusinfektionen – von Ringelröteln über Influenza bis Covid‑19 – zum Berufsrisiko gehören, aber die Langzeitfolgen bisher oft unterschätzt oder formaljuristisch „wegdefiniert“ wurden. Wie Recht-und-Politik-Portale berichten, stärkt das Urteil die Verhandlungsposition von Beschäftigten, die nachweislich im Job infiziert wurden und nun mit dauerhaften Fatigue‑Beschwerden leben.​

Parallel zum jetzt entschiedenen Fall der Erzieherin gibt es bereits eine Reihe von Urteilen, in denen Long‑Covid‑Betroffene im Gesundheitswesen eine Verletztenrente zugesprochen bekommen haben, wenn typische Symptome wie Fatigue-Syndrom, kognitive Störungen und Depressionen dauerhaft die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen. Gleichzeitig belegen andere Entscheidungen, dass Gerichte sehr genau prüfen, ob der Zusammenhang hinreichend gesichert ist – pauschale Anerkennungen wird es auch künftig nicht geben.​

Die Politik verweist in Bundestagsdrucksachen darauf, dass langfristige gesundheitliche Beeinträchtigungen nach beruflich erworbenen Covid‑19‑Infektionen grundsätzlich als Folgeschäden von Versicherungsfällen der gesetzlichen Unfallversicherung gelten und damit Zugang zu Heilbehandlung, Teilhabeleistungen und Rentenansprüchen eröffnen. Zusammen mit Urteilen wie dem des LSG Berlin-Brandenburg entsteht Schritt für Schritt eine verfestigte Linie, wonach auch schwer messbare Langzeitfolgen nach beruflichen Infektionen nicht aus dem Schutzschirm der gesetzlichen Unfallversicherung herausfallen dürfen.​

Fazit: Starkes Signal für langzeitkranke Versicherte – aber kein Selbstläufer

Das LSG Berlin-Brandenburg macht deutlich: Wer sich am Arbeitsplatz mit einem Virus infiziert und in der Folge ein Chronisches Erschöpfungssyndrom entwickelt, kann Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung haben. Die Entscheidung zeigt, dass sich Betroffene gegen ablehnende Bescheide wehren können – vorausgesetzt, der Zusammenhang zwischen Infektion, Krankheitsverlauf und dauerhafter Leistungsminderung wird medizinisch sauber belegt und juristisch konsequent verfolgt.​

Gleichzeitig bleibt das Urteil ein Einzelfall ohne automatische Übertragbarkeit: Andere Senate können anders entscheiden, und die Revision zum Bundessozialgericht wurde im konkreten Verfahren nicht zugelassen, kann aber noch beantragt werden. Für Beschäftigte mit CFS, Long‑Covid oder ähnlichen postinfektiösen Erkrankungen ist die Botschaft dennoch klar: Langfristige gesundheitliche Folgen nach einer beruflichen Virusinfektion gehören in die Verantwortung der gesetzlichen Unfallversicherung – und wer seine Rechte kennt, hat bessere Chancen, diese auch durchzusetzen.​

Redakteure

  • Peter Kosick

    Jurist und Redakteur

    Peter Kosick hat an der Universität Münster Rechtswissenschaften studiert und beide juristische Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen mit Erfolg abgelegt. Er arbeitet als freiberuflicher Jurist, ist Autor verschiedener Publikationen und hält Vorträge im Bereich Arbeits- und Sozialrecht. Seit mehr als 30 Jahren engagiert er sich im sozialen Bereich und ist seit der Gründung des Vereins "Für soziales Leben e.V." dort Mitglied. Peter Kosick arbeitet in der Online Redaktion des Nachrichtenmagazins Bürger & Geld, das der Verein herausgibt und ist der CvD. Seinen Artikeln sieht man an, dass sie sich auf ein fundiertes juristisches Fachwissen gründen.

    Peter hat ebenfalls ein Herz für die Natur, ist gern "draußen" und setzt sich für den Schutz der Umwelt ein.

    Seine Arbeit im Redaktionsteam von Bürger & Geld gibt ihm das Gefühl,  etwas Gutes für das Gemeinwohl zu tun.

    Alle Beiträge ansehen Peter Kosick
  • ik
    Experte:

    Sozialrechtsexperte und Redakteur

    Ingo Kosick ist ein renommierter Experte im Bereich des Sozialrechts in Deutschland. Er engagiert sich seit über 30 Jahren in diesem Feld und hat sich als führende Autorität etabliert. Als Vorsitzender des Vereins "Für soziales Leben e.V.", der 2005 in Lüdinghausen gegründet wurde, setzt er sich für die Unterstützung von Menschen ein, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Der Verein bietet über das Internet Informationen, Beratung und Unterstützung für sozial benachteiligte Menschen an.

    Ingo Kosick ist zudem Autor und Redakteur beim Nachrichtenmagazin Bürger & Geld, das der Verein "Für soziales Leben e.V." herausgibt. Ingo hat sich auf Themen wie Bürgergeld, Sozialleistungen, Rente und Kindergrundsicherung spezialisiert. Seine Artikel bieten fundierte Analysen und rechtlich aufgearbeitete Informationen, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützen sollen.

    Durch seine langjährige Erfahrung und sein Engagement hat Ingo Kosick maßgeblich dazu beigetragen, dass sozial benachteiligte Menschen in Deutschland besser informiert und unterstützt werden können.

    Alle Beiträge ansehen Ingo Kosick

Hinweis zur Redaktion und zum Faktencheck
Die Redaktion von Bürger & Geld prüft sämtliche Artikel vor Veröffentlichung sorgfältig nach aktuellen gesetzlichen Grundlagen, offiziellen Statistiken und seriösen Quellen wie Bundesministerien, Sozialverbänden und wissenschaftlichen Studien. Unser Redaktionsteam besteht aus erfahrenen Fachautorinnen für Sozialpolitik, die alle Inhalte regelmäßig überarbeiten und aktualisieren. Jeder Text durchläuft einen strukturierten Faktencheck-Prozess sowie eine redaktionelle Qualitätssicherung, um höchste Genauigkeit und Transparenz zu gewährleisten. Bei allen wesentlichen Aussagen werden Primärquellen direkt im Fließtext verlinkt. Die Unabhängigkeit von Werbung und Drittinteressen sichert neutralen Journalismus – zum Schutz unserer Leserinnen und zur Förderung der öffentlichen Meinungsbildung.


Verantwortlich für die Inhalte auf dieser Seite: Redaktion des Vereins Für soziales Leben e. V. – Ihre Experten rund um Soziale Sicherheit und Altersvorsorge.